Schwere Suche nach Verantwortlichen

Kiew zufolge wurden 20 000 mutmaßlich von russischen Militärs begangene Kriegsverbrechen angezeigt

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie hier in Butscha können Tote erst mit vielen Wochen Verspätung beigesetzt werden.
Wie hier in Butscha können Tote erst mit vielen Wochen Verspätung beigesetzt werden.

In den drei Monaten seit dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine sind nach Angaben aus Kiew rund 20 000 Kriegsverbrechen angezeigt worden, die von russischen Militärangehörigen begangen worden sein sollen. Allein die ihm unterstehende Polizei habe 13 500 solcher Taten registriert, sagte Innenminister Denys Monastyrskyj jüngst im ukrainischen Fernsehen. Man arbeite bei den Ermittlungen mit ausländischen Staatsanwälten und gemeinsamen Ermittlungsteams zusammen. Das zusammengetragene Beweismaterial soll auch an internationale Gremien übermittelt werden, um Tatverdächtige überall vor Gericht bringen zu können.

Um welche Taten es geht, ist schwer zu beurteilen. Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa wird in rund 11 600 Fällen wegen Kriegsverbrechen ermittelt. Ein russischer Soldat namens Wadim Schischimarin wurde Anfang der Woche zu lebenslanger Haft verurteilt, nachdem er die Tötung eines Zivilisten in der Region Sumy zugegeben hatte. Dass der 21-Jährige auf Befehl handelte, bewertete das Gericht nicht als strafmindernd. Gegen drei Kameraden sei, so die Staatsanwältin, ebenfalls Anklage erhoben worden. Alle Betroffenen befinden sich »physisch in der Ukraine«. 45 weitere Verdächtige habe man identifiziert. Doch sei die Beweislage nicht immer einfach. Man müsse Tatorte untersuchen, Zeugen finden und andere Beweise sichern. Zudem würden die Ermittlungen dadurch erschwert, dass die Staatsanwaltschaft derzeit nicht zu allen Tatorten Zugang habe und nicht alle Beschuldigten erreichen könne.

Wie exakt die Ermittlungen geführt werden, wie effektiv die Verteidigung der Angeklagten arbeitet und wie unabhängig die Richter urteilen, ist – zumal der brutale Angriffskrieg Russlands weiter andauert – kaum einzuschätzen. Zudem gibt es in den Berichten begriffliche Unklarheiten. So wird der Begriff Kriegsverbrechen meist umfassend verwendet, unter anderem auch für andere Völkerrechtsverstöße wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aus juristischer Sicht sind Kriegsverbrechen schwere Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907, gegen die Genfer Konventionen von 1949 mit ihren Zusatzprotokollen von 1977 und 2005. Darin wurde unter anderem klargestellt, wer und was angegriffen werden darf und welche Waffen verboten sind. Dabei geht es immer auch um den Schutz der nicht unmittelbar an Kampfhandlungen Beteiligten: Zivilisten, Gefangene und medizinisches Personal.

Kriegsverbrechen können jedoch gleichzeitig Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein, wenn sie etwa als großangelegte oder systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung verübt werden. Massenhinrichtungen, Zwangsumsiedlung, Verschleppung, Folter oder sexuelle Versklavung erfüllen diesen Tatbestand. All das wird aus der Ukraine berichtet.

Auch von Völkermord ist immer wieder die Rede. Das wären Handlungen, die in der Absicht begangen werden, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören«, besagt Artikel 2 der einschlägigen UN-Konvention von 1951. So unterschiedlich die Kategorien des Rechts, so verschieden sind die Möglichkeiten, dieses Recht auf nationaler, europäischer und globaler Ebene anzuwenden.

Auch auf Seiten der russischen Angreifer sind Ermittler zugange. Russische Politiker wollen ukrainische Kämpfer, die sich ergeben haben, aburteilen. Rufe nach Anwendung der Todesstrafe sind zu hören. Damit bedroht sind vor allem Angehörige ukrainischer Freiwilligen-Einheiten, die – wie das Asow-Regiment, das dem ukrainischen Innenministerium unterstellt ist – ideologisch rechtsaußen stehen und bereits seit 2014 in den sogenannten Volksrepubliken durch ihre rücksichtslose Kampfführung auch gegen Zivilisten aufgefallen sind. Der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, bezeichnet diese Gefangenen als »Nazi-Verbrecher«, die man nicht im Rahmen von Gefangenenaustauschen in die Ukraine heimkehren lassen könne. Am 26. Mai soll das Oberste Gericht der Russischen Föderation hinter verschlossenen Türen über die Einstufung des Asow-Regiments als »terroristische Organisation« entscheiden.

Mit der Genfer Konvention wäre das kaum zu vereinbaren. Im Dritten Abkommen heißt es: »Die Kriegsgefangenen sind jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln. Jede unerlaubte Handlung oder Unterlassung seitens des Gewahrsamsstaates, die den Tod oder eine schwere Gefährdung der Gesundheit eines in ihrem Gewahrsam befindlichen Kriegsgefangenen zur Folge hat, ist verboten…« Auch »körperliche Verstümmelungen« sind verboten. Kriegsgefangene seien vor Beleidigungen und »öffentlicher Neugier« zu schützen. Doch Aufnahmen in sozialen Netzwerken belegen: Beide Kriegsparteien ignorieren diese Vorgaben.

Gemäß seinem Mandat muss das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) überall unmittelbaren Zugang zu allen Kriegsgefangenen erhalten, mit ihnen ohne Zeugen zeitlich unbegrenzt sprechen können. Soweit die Theorie.

Von russischer Strafverfolgung bedroht sind auch Freiwillige und Söldner. Am 27. April berichtete das staatliche Untersuchungskomitee in Moskau, in ukrainischen Formationen dienten Söldner aus mehr als 50 Ländern. Man wisse aktuell von 4877 Personen, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, und erklärte: »Sie kamen in die Ukraine, um Geld zu verdienen, indem sie Slawen töteten. Das Beste, was sie erwartet, sind lange Haftstrafen.«

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