Vorschnelle Urteile vermeiden

Massaker führten immer wieder zum Kriegseintritt. Doch nicht alle Kriegsverbrechen halten einer Untersuchung stand.

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Ukraine geschehen Kriegsverbrechen. Daran darf es keinen Zweifel geben. Nicht erst seit den Bildern aus Butscha vom Wochenende und nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskrieges, der jetzt in die siebte Woche geht. Erinnert sei etwa an den Donbass. Die Zahl der Kriegsverbrechen ist in vielen Teilen des Landes unbestreitbar hoch. »Entschuldigt. Aber ich bin psychisch nicht gerüstet für Bilder von ermordeten und hingerichteten Menschen in der Timeline«, schreibt eine Twitternutzerin. Sie ist damit nicht allein. Zahlreiche Menschen reagierten auf die Bilder, teils auch mit verbaler Gegengewalt und Forderungen nach einem schonungslosen Vorgehen gegen russische Soldat*innen, denen die Kriegsverbrechen wenige Stunden nach dem Bekanntwerden eindeutig zugeschrieben werden. Emotional auf all das zu reagieren, ist menschlich, verständlich und unvermeidbar.

Hilfreich ist es aber leider nicht, denn viele der eindeutig gefassten emotionalen Urteile halten den Fakten nicht lange stand, aber verfestigen das Bild, das wir uns vom Kriegsgeschehen machen. Dabei bauen wir blinde Flecken auf, kontinuierlich aus und sorgen dafür, dass politische Entscheidungen unserer gemeinsam entwickelten Realität folgen. Dabei verlieren wir die eigentlichen Täter*innen eventuell aus dem Blick. War noch am Montag angeblich klar, dass russische Soldat*innen die Morde an Zivilist*innen begangen haben, differenziert sich das Bild mit neuen Zeugenaussagen, die sukzessive verfügbar werden. So ist nun davon die Rede, dass die russischen Soldat*innen Tage nach dem Einmarsch wohl vereinzelt auch die Bevölkerung warnten, als Agent*innen des russischen Geheimdienstes FSB vor Ort ankamen und Menschen folterten.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Schnell wurden aus Satellitenbildern der Leichen angebliche Beweise für Kriegsverbrechen der russischen Armee, da sie belegen sollen, dass die getöteten Ukrainer*innen schon einige Wochen und kurz nach dem russischen Einmarsch an den Fundorten lagen. So gering die Wahrscheinlichkeit auch ist, damit falsch zu liegen, so nötig ist es, weiterhin von mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen zu sprechen. Auf den Satellitenbildern ist nicht ersichtlich, ob die aufgefundenen toten Zivilist*innen zum Zeitpunkt der Tötung Waffen trugen und ob die ukrainische Bevölkerung bewaffnete Gegenwehr geleistet hat. Zu Beginn des Angriffskrieges hat die Ukraine zahlreiche Bürger*innen notdürftig an Kriegswaffen ausgebildet und Waffen verteilt. Das würde sie zu Kombattant*innen machen und ihre Tötung wäre dann kein Kriegsverbrechen.

In der emotionalen Diskussion um die Täterschaft wird meist ausgeblendet, dass auch Kämpfer*innen aus anderen Ländern, unter ihnen Söldner*innen und Rechtsradikale, im Kriegsgebiet die Chance zum absehbar ungestraften Morden suchen. Auch kann die ukrainische Armee Kriegsverbrechen begehen, und das nicht nur an festgenommenen russischen Soldat*innen. Zur Liste der Kriegsverbrechen zählt auch die »Benutzung der Anwesenheit einer Zivilperson, um Kampfhandlungen von gewissen Punkten, Gebieten oder Streitkräften fernzuhalten«.

Ganz klar: Die Menge nachweisbarer Kriegsverbrechen wird beim Angreifer überwiegen. Eventuelle ukrainische Kriegsverbrechen wiegen aber nicht weniger schwer, nur weil ein Angriff stattfand. Wechselseitig beschuldigt man sich der Kriegsverbrechen oder der Inszenierung selbiger. Ob eine getötete Person mit gefesselten Händen starb oder ob Hände erst nach dem Tod zusammengebunden wurden, ist aus Bildern und ohne Obduktion nicht erkennbar.

Lesen Sie auch das Interview von Velten Schäfer über Medien im Kosovo-krieg »Es bleibt immer etwas hängen« mit dem Historiker Kurt Gritsch.

Spätestens seit mutmaßliche Massaker zum deutschen Eintritt in den Kosovo-Krieg führten oder als 1990 eine PR-Agentur die Brutkastenlüge von der Tötung frühgeborener kuwaitischer Babys durch irakische Soldaten inszenierte, dürfen keine emotionalen Urteile über Kriegsverbrechen unser Handeln bestimmen. Nötig ist jetzt eine unabhängige, international geführte Untersuchung aller in der Ukraine nachweisbaren Kriegsverbrechen. Zu Wladimir Putins Selbstinszenierung rund um Kriegsverbrechen trägt leider auch bei, dass mutmaßliche US-Kriegsverbrechen in Afghanistan und dem Irak eher nachlässig untersucht wurden. Die Inhaftierung von Julian Assange, Chelsea Manning und der ungeahndete Weiterbetrieb von Guantanamo machen auch die Weste der nun Anklagenden alles andere als weiß.

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