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»Krieg ist niemals eine Option«
Amnesty Preisträger Dan Yirga Haile über den Konflikt in Tigray und die Menschenrechtslage in Äthiopien
Im Schatten des Krieges in der Ukraine gibt es einen immer noch andauernden kriegerischen Konflikt in der Region Tigray in Äthiopien. Der äthiopische Premierminister Ahmed Abiy hatte am 4. November 2020 seine Militäraktion dort begonnen, mit dem Ziel, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Kurz darauf erklärte er die Tigray People‹s Liberation Front (TPLF) für besiegt. Ein Trugschluss. Wie ist die Situation derzeit?
Sie ist schlecht. Der Krieg dauert an, viele Menschen hungern, der Gesundheitssektor liegt danieder, viele Krankenstationen wurden zerstört. Auch die Banken arbeiten nicht, viele Straßen sind zerstört, das Internet ist lahmgelegt. Laut den spärlichen Informationen, die wir aus der Region bekommen, gibt es einen großen Bedarf an Nothilfe, für Nahrung, für Medizin und anderes.
Dan Yirga Haile wurde 1984 in Addis Abeba geboren. Nach Abschluss seines Studiums mit dem Master im Themenfeld Menschenrechte an der Universität in Addis Abeba trat er dem Äthiopischen Menschenrechtsrat (EHRCO) bei, der 2022 den Amnesty Menschenrechtspreis erhielt. Dan Yirga Hiia ist für ihn seit 2006 tätig und seit 2020 ist er geschäftsführender Direktor der Menschenrechtsorganisation. Mit ihm sprach für »nd« Martin Ling.
Im Jahr 2021 waren nach Angaben der UN rund 350.000 Menschen von einer Hungersnot bedroht. Viele Bauern wurden an der Aussaat gehindert, um den Hunger als Waffe zu nutzen, Hilfsorganisationen hatten nur begrenzten Zugang. Hat sich die Lage weiter verschlechtert oder gibt es keine gesicherten Informationen darüber?
Wir erhalten nur wenige Informationen aus der Region, es ist schwierig. Hilfsorganisationen erhalten derzeit keinen vollständigen und freien Zugang nach Tigray. Auch wir vom Äthiopischen Menschenrechtsrat (EHRCO) hatten nach Zugang für Menschenrechtsuntersuchungen gefragt, aber die Regierung in Addis Abeba hat es abgelehnt. Deshalb können wir unsere Arbeit dort nicht machen. Wir machen normalerweise Forschung aus erster Hand, sprechen direkt mit Opfern und Zeug*innen von Menschenrechtsverletzungen, suchen selbst nach sachlichen Beweisen und stützen uns nicht wie andere Organisationen auf Quellen, die zweiter Hand ausgewertet werden. Da unser Büro in Tigray geschlossen ist, ist es uns im Moment nicht möglich, die Menschenrechtssituation vor Ort zu überprüfen.
Liegt das ausschließlich an der äthiopischen Regierung oder auch an der tigrayischen Befreiungsfront TPLF?
Seit der Krieg tobt, ist der Zugang schwierig. Beide Seiten müssen uns die Erlaubnis für den Zugang geben, die Erlaubnis einer Seite reicht nicht aus. Da unser Gesuch von der äthiopischen Regierung abgelehnt wurde, machte es keinen Sinn mehr, bei der TPLF eins zu stellen. Also können wir nicht hin. Unser Ziel bleibt es aber, sobald es möglich ist, dort hinzugehen und Nachforschungen zu Menschenrechtsverletzungen zu machen.
Nach dem Sturz des Diktators Mengistu im Jahr 1991 regierte die TPLF das Land bis 2018 mit eiserner Hand. Die Tigrayer machen nur sechs Prozent der Bevölkerung aus, was in dem Vielvölkerstaat mit rund 115 Millionen Menschen aus über 80 Ethnien zu wachsenden Ressentiments führte. Ist das richtig oder Propaganda der aktuellen Regierung?
Richtig ist, dass die TPLF in der Befreiungsbewegung, die 1991 Mengistu stürzte, eine vorherrschende Rolle spielte. Und das hat sich die nächsten 27 Jahre fortgesetzt, die TPLF war an den Schaltstellen bis 2018.
Verwendet der Friedensnobelpreisträger Abiy in dem aktuellen Konflikt Ethnophobie und Hassreden gegen die Tigrayer? Das war hierzulande zu lesen.
Er sagt immer wieder, dass er nichts gegen Tigrayer*innen hätte, sondern es ausschließlich gegen die TPLF und deren Mitglieder ginge. Diese Frage müsste ihm gestellt werden. Es ist illegal, mit Gewalt gegen die eigenen Bürger*innen vorzugehen, dazu gehören auch die Tigrayer*innen. Die Regierung sollte den Rechten aller Bürger*innen ohne Diskriminierung Geltung verschaffen.
Abiy wollte 2018 ein neues Äthiopien schaffen, ein Land, in dem die Partikularinteressen der ethnischen Gruppen hinter einem Gesamtinteresse zurückstehen. Die TPLF wollte da nicht mitspielen. Nach ihrer Entmachtung berief sich die TPLF auf die Verfassung, die eine föderale Republik vorsieht, in der die größten ethnischen Gruppen und ihre Regionen weitgehende Autonomie genießen – eine Verfassung, die sie selbst oft missachtete. Ist die TPLF ein Teil des Problems?
Die derzeitige Situation hat sicher viele Ursachen, und die TPLF ist wohl ein Teil des Problems. Aber was auch immer die Ursachen sind, die Verantwortung für die Lösung des Problems und der Konflikte trägt in erster Linie die Regierung. Die Regierung muss dafür Sorge tragen, dass Frieden herrscht und dass die Menschenrechte gefördert und respektiert werden. Das ist ihre Hauptaufgabe und da sollte sie keine Ausflüchte suchen. Das gleiche gilt für andere Akteur*innen.
Krieg gegen die TPLF ist kein Weg zur Lösung des Konflikts?
Nein. Für mich als Menschenrechtsverteidiger ist Krieg niemals eine Option. Ich appelliere an alle Parteien, den Krieg zu stoppen und einen Dialog am Verhandlungstisch zu führen. Der Krieg tötet Zivilist*innen, darunter viele Frauen und Kinder. Wir haben in Äthiopien immer wieder lange Kriege erlebt. Das muss ein Ende haben. Das bringt nur Zerstörung und Leid, aber keine Lösung. Wir haben Krieg satt. Frieden ist ein Menschenrecht. Und alle äthiopischen Ethnien sollten ihn genießen dürfen. Frieden ist für uns alle nützlich.
Bislang wird der Vielvölkerstaat durch eine progressive Verfassung zusammengehalten, die auf einem ethnischen Föderalismus basiert, der seinerseits das Recht auf Abspaltung von Regionen beinhaltet. Dieses Konzept wurde einst weitgehend von der TPLF durchgesetzt und nicht breit diskutiert. Und dieses Konzept hat die ethnischen Konflikte sogar noch verschärft. Wird Äthiopiens Zukunft föderal sein?
Wie Äthiopiens Zukunft aussehen wird, sollen die Äthiopier*innen frei entscheiden können. Und das auf friedliche Weise. Das kann alles zur Abstimmung gestellt werden. Frieden sollte der einzige Weg sein, den wir gehen. Die äthiopische Verfassung enthält grundsätzliche Menschenrechte, das Problem ist, dass sie nicht vollständig umgesetzt werden. Fast ein Drittel der Verfassung ist den Menschenrechten gewidmet. Am normativen Rahmen fehlt es nicht, es fehlt an der Praxis. Die Regierung ist nicht in der Lage, die verfassungsmäßigen Rechte umzusetzen und hat in den vergangenen Tagen mehrere Journalist*innen und Aktivist*innen verhaftet.
Auch die deutsche Regierung und die internationale Gemeinschaft sollten nicht ausschließlich auf die Ukraine und nach Osteuropa schauen, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, sondern auch den Globalen Süden im Blick behalten, Äthiopien zum Beispiel. Menschenrechte sind universell. Es spricht nichts gegen die Aufmerksamkeit für die Ukraine, ich bin voll dafür, aber sie sollte sich nicht darauf beschränken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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