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Besser zielgerichtet und direkt

Wie man Menschen mit schmalerem Geldbeutel wirksam entlasten kann

  • Barbara Höll, Daniela Trochowski, Axel Troost, Harald Wolf
  • Lesedauer: 8 Min.

Wegen der dramatisch gestiegenen Energiepreise und der insgesamt hohen Inflation wird inzwischen bis weit in die CDU anerkannt, dass es für Menschen mit schmalerem Geldbeutel dringend Unterstützungsmaßnahmen bzw. Entlastungen bedarf.

Von unterschiedlichster Seite wird dabei bisweilen auch eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Güter des täglichen Bedarfs ins Gespräch gebracht. Solche Forderungen nach Mehrwertsteuersenkungen scheinen populär zu sein, von daher steht auch die Linke vor der Frage, ob sie diese Forderung aufgreifen soll oder ob sie eine bessere Alternative anbieten kann, die ebenfalls populär vertretbar ist.

Wir denken: Statt viel Geld für eine Senkung der Mehrwertsteuer für Alle auszugeben, sollte der Staat mit demselben Geld lieber gezielt Menschen mit niedrigem und mittleren Einkommen bzw. »die weniger gut situierte Hälfte der Gesellschaft« mittels Direktzahlungen unterstützen. Berechnungen zeigen, dass durch solche Direktzahlungen weit mehr als doppelt so viel Unterstützung bei diesen Menschen ankommt. Wie groß der Handlungsbedarf ist, hat Ulrich Schneider kürzlich sehr treffend auf den Punkt gebracht, als er schrieb, »dass wir derzeit nicht nur die höchste Inflationsrate seit Jahrzehnten haben, sondern mit 16,1 Prozent auch die höchste Armutsquote und mit 15 Prozent auch eine der höchsten Sparquoten«.

Vorschläge zur Senkung der Mehrwertsteuer begegnen uns regelmäßig, insbesondere in Krisenzeiten. Anders als bei der letzten größeren Diskussion im Jahr 2020 soll eine Mehrwertsteuersenkung aber diesmal nicht durch sinkende Preise einen Konjunkturimpuls setzen, sondern den starken Preisanstieg bei Alltagsgütern wie Lebensmitteln oder Kraftstoffen bremsen.

Die Mehrwertsteuer ist eine regressiv wirkende Steuer, das heißt, sie trifft Menschen mit niedrigen Einkommen anteilig härter als Besserverdiener, weil erstere einen prozentual sehr viel höheren Anteil ihres Einkommens für Alltagskonsum und somit für die Mehrwertsteuer ausgeben (müssen). Von daher lehnt die Linke generelle Erhöhungen der Mehrwertsteuer aus verteilungspolitischen Gründen grundsätzlich ab. In absoluten Zahlen betrachtet ist die Belastungswirkung allerdings umgekehrt, denn je höher die Konsumausgaben eines Haushaltes sind, desto höher ist der absolut entrichtete Betrag für die Mehrwertsteuer. Das gilt umso mehr, weil der Anteil von Konsumausgaben für Produkte mit dem nicht-ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent bei einkommensstärkeren Haushalten stark zunimmt.

Wie wirkt die Mehrwertsteuer auf die Preise?

Auch wenn die Linke Mehrwertsteuererhöhungen ablehnt, ergibt sich daraus nicht im Umkehrschluss, dass eine Mehrwertsteuersenkung ein geeignetes Mittel zur Umverteilung von oben nach unten ist. Die Preisbildung reagiert auf Änderungen der Mehrwertsteuer nämlich mindestens teilweise asymmetrisch: Erhöhungen werden in der Regel in vollem Umfange an die Endverbraucher*innen weitergegeben, während Senkungen nur bei manchen Waren und/oder nicht in vollem Umfange weitergegeben werden. Der Umfang dieser Teilweitergabe variiert erheblich. Bei einzelnen dauerhaften Senkungen (z.B. auf Hotelübernachtungen 2010 oder Frauenhygieneartikel 2020) ist die Entlastung der Verbraucher*innen sehr gering bzw. kaum messbar ausgefallen. Anders ausgedrückt: Was vorher als Mehrwertsteuer an den Staat geflossen ist, ist nach der Absenkung einfach nur direkt als Extragewinn in die Taschen der Hersteller und Hoteliers geflossen.

Anders sieht es für die coronabedingte temporäre Mehrwertsteuersenkung in der zweiten Jahreshälfte 2020 aus. Damals wurden für sechs Monate der ermäßigte Satz von 7 auf 5 Prozent und der reguläre Satz von 19 auf 16 Prozent reduziert. Das DIW schätzt, dass diese Mehrwertsteuersenkung in diesem Zeitraum im Durchschnitt zu ca. 50 Prozent an die Verbraucher*innen weiter gegeben worden sei, das Ifo-Institut schätzt die Weitergabe für Supermarktsortimente auf »fast vollständig«. Die Bundesbank bezifferte das Maß der Weitergabe der Mehrwertsteuersenkung auf durchschnittlich ca. 60 Prozent: bei Nahrungsmitteln und Industrieprodukten fast vollständig und bei Dienstleistungen nur zu einem Drittel. Für Diesel und Benzin kam Monika Schnitzer, Mitglied des Sachverständigenrates, auf Weitergabequoten von 83 bzw. 61 Prozent. Diese Untersuchungen zur temporären Mehrwertsteuersenkung 2020 beziehen sich aber nur auf die Weitergabe der Senkung, nicht auf die Weitergabe der sich daran anschließenden Wiederanhebung zum 1.1.2021.

Eine breitere Studie, die eine Vielzahl von Mehrwertsteuersenkungen und -anhebungen in der OECD zwischen 1996 und 2015 untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass Anhebungen der Mehrwertsteuer in doppelt so starkem Maße bzw. in doppelt so vielen Fällen durch Preissteigerungen weitergegeben wurden wie Senkungen. Insbesondere bei nur temporären Senkungen kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass sich danach für Jahre ein höheres Preisniveau herausbildet.

Wer wird wie stark entlastet?

Haushalte mit hohen Einkommen geben deutlich mehr für Lebensmittel aus als arme Haushalte. Da aber – anders als bei Fernreisen, Pkw, Eigenheimen oder Yachten – alle Menschen essen müssen, ist die Spreizung mit ca. 57 Prozent bei Nahrungsmitteln im Vergleich zu anderen Warengruppen sogar sehr gering (vgl. Tabelle 1). Für Bekleidung und Schuhe geben reiche Alleinlebende z.B. fünfmal so viel aus wie arme Alleinlebende.

In absoluten Zahlen gab das unterste Zehntel (mit dem niedrigsten Nettoeinkommen) der Alleinlebenden im Jahr 2018 insgesamt 91,14 Euro für die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel aus, während das oberste Zehntel der Alleinlebenden (mit dem höchsten Nettoeinkommen) 142,77 Euro zahlte. Im Umkehrschluss bekäme daher eine reiche Alleinlebende bei Senkung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Lebensmittel von 7 auf 0 Prozent 51,63 Euro mehr im Jahr vom Staat »geschenkt« als eine arme Alleinlebende (vgl. Tabelle 2).

Derzeit schätzt das DIW die jährlichen Steuereinnahmen aus der ermäßigten Mehrwertsteuer auf ca. 16,2 Milliarden Euro, die bei einer Senkung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf 0 Prozent wegfielen. Etwa zwei Drittel davon (ca. 10 bis 10,5 Mrd. Euro) entfallen auf die MwSt. auf Lebensmittel. Würde man eine MwSt.-Senkung nur auf Obst, Gemüse und Getreideprodukte beschränken, kämen Steuerausfälle von ca. 5 Mrd. Euro zusammen.

Was also tun?

Da eine Mehrwertsteuersenkung besserverdienenden Haushalten mehr Steuern erlässt als den eigentlich bedürftigen ärmeren Haushalten, aber genau diese wohlhabenden Haushalte gar nicht vom Staat vor der Teuerungswelle »beschützt« werden müssen, erscheint eine pauschale Mehrwertsteuersenkung als wenig geeignetes Instrument.

Wir plädieren stattdessen für zielgerichtete Direktzahlungen, um dort zu helfen, wo die Hilfe wirklich benötigt wird. Durch eine Nicht-Förderung von Nicht-Bedürftigen steht außerdem deutlich mehr Geld für die zur Verfügung, die die Hilfe dringend brauchen. Oder mit Ulrich Schneider: »Die adäquate Antwort auf die aktuelle Inflation wäre eine offensive Sozialpolitik, die nicht auf das Prinzip Gießkanne, Wählerbefriedung und Einmalzahlungen setzt, sondern auf eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Und die allen Menschen im Lande wieder soziale Sicherheit gibt, nicht nur jenen weiter oben auf der Einkommensskala. Dies kann nur zielgenau funktionieren, da jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann.«

Drei Ausgestaltungsvarianten für solche Direktzahlungen wurden jüngst von der Bundestagsfraktion Die Linke durchgerechnet. (Tabelle 2) Ausgangspunkt ist, was mit den ca. 8,4 Milliarden Euro, die eine Mehrwertsteuersenkung auf 0 für alle Nahrungsmittel 2018 gekostet hätte, alternativ finanzierbar gewesen wäre. Zu aktuellen Preisen dürften die entsprechenden Zahlen für heute um ca. 20 bis 25 Prozent höher ausfallen.

Variante 1: Direktauszahlungen an die »untere Hälfte der Gesellschaft«

In diesem Fall würden Direktauszahlungen von jeweils knapp 220 Euro pro Kopf (für Minderjährige im Durchschnitt 110 Euro) an ca. 41,5 Millionen Personen ausgezahlt, deren Pro-Kopf-Einkommen unterhalb des Mittelwerts liegt. Aus Sicht eines Single-Haushalts, der zu den zehn Prozent mit dem niedrigsten Nettoeinkommen gehört (ärmstes »Dezil« der Single-Haushalte) wäre das fast das Zweieinhalbfache bzw. eine Besserstellung um 141 Prozent im Vergleich zu einer Mehrwertsteuersenkung für Nahrungsmittel. Bei einem Paar-Haushalt aus dem ärmsten Dezil entspräche das einer Besserstellung um 115 Prozent. Eine Familie mit zwei Kindern aus dem ärmsten Dezil würde im Vergleich zur entsprechenden Mehrwertsteuersenkung um 129 Prozent bessergestellt, erhielte also das 2,3-Fache.

Variante 2: Direktauszahlung doppelt so hoch wie Entlastung durch Mehrwertsteuersenkung

Dieser Fall geht von dem Ziel aus, dass die ärmsten Single-Haushalte mindestens doppelt so stark entlastet werden sollen wie durch eine Mehrwertsteuersenkung (daher durchgängig die Besserstellung um 100 Prozent für Haushaltstyp 1). Für 2018 läge der entsprechende Betrag bei ca. 182 Euro. Familien mit zwei Kindern erhielten eine Direktzahlung von knapp 546 Euro (das Dreifache von Haushaltstyp 1, da Minderjährige nur die Hälfte der Erwachsenen erhalten). Da diese Entlastung niedriger als im Fall 1 ist, können insgesamt mehr Haushalte begünstigt werden. Statt »nur« die untere Hälfte der Gesellschaft zu entlasten, könnten so über 60 Prozent der Bevölkerung eine Direktzahlung erhalten, wir nehmen in diesem Modell also eindeutig »die Mehrheit der Bevölkerung« mit.

Variante 3: Direktauszahlung an alle Armutsgefährdeten

Der Fall 3 konzentriert die Entlastung noch sehr viel stärker auf die ärmeren Haushalte. Die konkrete Direktzahlung kann dadurch natürlich deutlich höher ausfallen. Das Statistische Bundesamt gibt den Anteil der Armutsgefährdeten an der Gesamtbevölkerung für 2018 mit 16 Prozent an. Entscheidend muss sein, ab welcher Einkommensarmut wir bei weiter steigenden Preisen davon ausgehen müssen, dass z.B. zunehmend Mangelernährung und Hunger eintreten. Solche Missstände abzuwenden muss natürlich Priorität genießen, andererseits können derartig krasse Missstände aber natürlich nicht allein über das Instrument einer Direktzahlung (und noch viel weniger über eine Mehrwertsteuersenkung) beseitigt werden.

Die Autorinnen und Autoren sind Finanzpolitiker*innen der Linken.

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