- Berlin
- Bundesverfassungsgericht
Altanschließer ausgetrickst
Mahnungen zu Forderungen, die gar nicht mehr vollstreckt werden dürfen
»Verjährungsregelungen schöpfen ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit aus dem Umstand, dass Einzelne auch gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürfen, irgendwann nicht mehr mit einer Geldforderung überzogen zu werden.« Der am Dienstag veröffentlichte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Man merkt den drei Richtern den Ärger an, sich damit noch befassen zu müssen. Denn eigentlich hätte das doch bereits mit einem Verfassungsgerichtsbeschluss von 2015 geklärt sein müssen.
Damals ging es um die Eigentümerinnen von zwei Grundstücken in Cottbus. Diese Grundstücke waren bereits vor dem 3. Oktober 1990 an die Kanalisation angeschlossen worden – Stichwort: Altanschließer. Mit Bescheiden von 2009 und 2011 sollten die Eigentümerinnen Beiträge bezahlen. Die Materie ist kompliziert und lässt sich schwer mit wenigen Sätzen erklären. Darum nur so viel: Nach der vor dem 1. Februar 2004 gültigen Fassung des brandenburgischen Kommunalabgabengesetzes wären beide Forderungen 1997 verjährt gewesen, nicht aber nach einer dann vom Landtag beschlossenen Gesetzesänderung, die darauf abhob, dass der zuständige Wasser- und Abwasserzweckverband nicht nur eine Satzung haben muss, sondern auch eine rechtswirksam gültige Satzung, damit die Verjährung beginnt.
In dem neuen Beschluss des Verfassungsgerichts geht es nun um zwei Bescheide von 2014. Bekommen haben diese Bescheide eine Frau vom Märkischen Abwasser- und Wasserzweckverband und eine GmbH vom Wasser- und Abwasserzweckverband Nieplitz. Hier entschied das Verfassungsgericht, dass die Beitragsforderungen auch dann verjährt sind, wenn zwischenzeitlich eine Ortschaft eingemeindet wurde und dadurch eine andere Kommune oder ein anderer Zweckverband für Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung zuständig geworden ist.
Der Landtagsabgeordnete Péter Vida (Freie Wähler) redet sich in Rage, als er dem »nd« am Dienstagabend die Zusammenhänge erläutert. Hatte seine Fraktion doch erst kürzlich vom Innenministerium verlangt, in einem Rundschreiben an die Zweckverbände mitzuteilen, dass rechtswidrig kassierte Beiträge zurückzuzahlen sind und dies nicht mit Verweis auf einen Wechsel des Aufgabenträgers verweigert werden könne.
Dies habe der Abgeordnete Andreas Noack (SPD) für »überflüssig« erklärt, und Innenminister Michael Stübgen (CDU) habe auch keinen Handlungsbedarf gesehen – und nun von den Richtern diese »schallende Ohrfeige« erhalten.
Vida schätzt, dass es in Brandenburg 10 000 Betroffene gibt, denen zusammen eine niedrige zweistellige Millionensumme zurückzuzahlen sei. Es gehe für den Einzelnen um durchschnittlich 4000 Euro. Zwei Fallgruppen gebe es: Jene, die einst Widerspruch gegen ihre Bescheide einlegten, dann aber doch bezahlten und nun ihr Geld zurückerhalten müssen. Und jene, die zwar keinen Widerspruch einlegten, aber die Rechnung einfach nicht beglichen haben und denen das Geld eigentlich jetzt nicht mehr abverlangt werden könne. Vida ist Rechtsanwalt und kennt Fälle, wo alte Leute immer wieder Mahnungen im Briefkasten haben, die aber gar nicht mehr vollstreckt werden dürften. Es sei schwer, diesen Menschen begreiflich zu machen, dass sie die Mahnungen ignorieren sollen – zumal, wenn in den Mahnschreiben von Mal zu Mal höhere Verzugszinsen angegeben seien, die angeblich mittlerweile auch noch zu zahlen wären. Wer vor Angst schließlich doch bezahle, könne sein Geld danach nicht mehr zurückverlangen.
In den Fällen, die durch die Urteile erfasst sind, sollen die Zweckverbände die kassierten Summen endlich zurückzahlen, meint auch die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke). »Es gibt jetzt mehrere Urteile«, erinnert sie am Mittwoch. Daran sollen sich die Zweckverbände halten, und da seien auch die Kommunen gefragt, die sich in diesen Zweckverbänden zusammengeschlossen haben. Aber sämtlichen Altanschließern ihre Beiträge zurückzuzahlen, »das wird nix«, bedauert Johlige. In der vergangenen Wahlperiode hatte ihre Partei durchgesetzt, dass die Zweckverbände für die Rückzahlung zu Unrecht erhobener Beiträge finanziell vom Land unterstützt werden.
Schätzungsweise 100 000 Grundstückseigentümer warten laut Vida noch auf ihr Geld, darunter auch jene, die einst widerspruchslos gezahlt hatten und damit juristisch keinen Anspruch mehr auf eine Rückzahlung haben. Denen würde nur noch eine politische Lösung helfen. Aber die ist nicht in Sicht.
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