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Ein leichter Sinn

Der französische Regisseur Julien Gosselin debütierte an der Berliner Volksbühne und versuchte den Geist des Hauses zu beschwören

Hier gibt es kein Selbstreflexionsblabla, sondern deutsche Literatur in Überlänge.
Hier gibt es kein Selbstreflexionsblabla, sondern deutsche Literatur in Überlänge.

Ganz plötzlich fühlt man sich fünf Jahre oder mehr in der Zeit zurückgeworfen. Kaum etwas ist noch zu spüren von der kulturtötenden Pandemie an diesem warmen Sommertag auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte. Hier haben sie sich alle versammelt: die altbekannten Kulturbetriebsgesichter und spektakelsehnsüchtige junge Menschen.

Als die Glocke drei Mal tönt vom monumentalen Theatertanker aus, der Volksbühne, ist dem angenehm lauen Wetter zum Trotz niemand böse, nach drinnen gerufen zu werden. Hier wird das Publikum heute nicht mit dem üblichen Selbstreflexionsblabla von Theaterschaffenden behelligt, sondern in Überlänge mit der deutschen Literatur – und das heißt auch: mit dem deutschen Wesen – konfrontiert. Ein gigantisches Bühnenbild mit einer Drehscheibe im Dauereinsatz und allen Spielarten des Live-Kamera-Theaters wird dafür aufgefahren. Brillante Schauspieler, darunter die Volksbühnen-Urgesteine Martin Wuttke und Hendrik Arnst, sind zu bewundern. Ein ganz besonderer Bühnenwahnsinn. Mit reichlich Fremdtext wird gearbeitet, in mehreren Sprachen – und auch Ernst Jünger von der Bühne deklamiert.

Ist denn etwa Frank Castorf, unser reichlich mythisierter Theaterübervater, an »sein« Haus zurückgekehrt? Aber nein, es handelt sich nur um die Bühnenarbeit eines Epigonen. In diesem Fall eines jungen, aus Frankreich kommenden, recht begabten Epigonen. Julien Gosselin legt mit »Sturm und Drang. Geschichte der Deutschen Literatur I« seine erste Inszenierung an der Volksbühne und überhaupt an einem deutschen Theater vor, die den Auftakt bilden soll zu einem spielzeitübergreifenden Großprojekt. Groß denken, das macht Spaß – allerdings fehlt es diesem ersten Abend an einigen Kleinigkeiten wie zum Beispiel einer Idee, die dieses faserige Spektakel mit teilweise großartigen Momenten zusammenhält.

Das Bühnenbild (Lisetta Buccellato) macht durchaus Freude. Die Kostüme (Caroline Tavernier) sind entzückend. Hendrik Arnst trifft genau den alten, dreckigen Volksbühnenton. Martin Wuttke ist ein alter Könner, von dem man auch den schlechtesten Text noch gern hört. Benny Claessens tänzelt wundervoll einnehmend die Rampe entlang. Und Marie Rosa Tietjen ist wohl eine der tollsten Aktricen-Zugewinne für die Hauptstadt.

Warum aber sind diese dreieinhalb Stunden – zwischen einem vielversprechenden Auftakt und einem Ende, das sitzt – so zäh? Gosselin möchte so gern einen klugen, reflektierten, aufrüttelnden Theaterabend à la Castorf zaubern und hat damit keinen Erfolg, weil sein Bühnenwerk zwar hübsch aussieht, aber nicht so wirklich klug, reflektiert, aufrüttelnd gerät. Man wird in die Rolle des konservativen Nörglers hineingezwungen, in der man nicht umhinkann, festzustellen, dass man das alles so ähnlich schon mal gesehen hat, nur doch etwas besser.

Selbstredend kann man Texte von Ernst Jünger auf der Bühne sprechen lassen und das auch über ein Viertel des ganzen Abends. Aber warum das getan wird, wüsste man als interessierter Zuschauer recht gerne. Weil’s in Jünger auch schön ausgeprägt stürmte und drängte nach Krieg? Ansonsten hält man’s mit Goethe, widmet sich Thomas Mann und – naheliegend – seiner »Lotte in Weimar«, um dann – so nahe liegt das hingegen nicht – bei seinem »Tod in Venedig« zu landen.

Zu Beginn wird der Schauplatz eifrig hin und her gewechselt. Zwischen dem legendären Hotel Elephant in Weimar, das sein Abbild auf der Bühne findet und in das die gealterte Lotte mit ihrer Tochter einkehrt, und einem Gasthaus im Wetzlar einer grauen Vorzeit – das Wetzlar Werthers. Das alles wird mit beachtlicher Verve gespielt, vorrangig für die Kameras. Das Geschehen wird auf bis zu drei Leinwänden übertragen und mit pathosgeladener Musik unterlegt.

Wer so spielt, dem sieht man gern zu. Und auch ein Parforceritt durch die Literaturgeschichte kann, wenn sie so anarchisch aussieht, eine Freude sein. Aber das Publikum bleibt nur so lange gnädig, bis es merkt, dass es nichts mehr zu holen gibt. Auch an diesem Abend werden zwar ein paar gewichtige Themen aufgerufen – Liebe, Kunst und Alter, Geniekult und toxische Männlichkeit –, aber die Entwicklung der Gedanken auf der Bühne bricht ab. Die Szenen reihen sich beziehungslos aneinander. Und was hat Thomas Mann damit zu tun? Er scheint nur Stichwortgeber zu sein.

Irgendwann wird umgebaut: Das Bühnen- wird zum Höllenportal. Der faustische Martin Wuttke beherrscht als Goethe die Szene. Aber so recht will sich auch damit keine Geschichte erzählen lassen, die mehr wäre als eine Kette von Gedanken. Ein bisschen hängt das auch am existenzialistischen Kitsch, der da – klar, immer auch selbstironisch – dargeboten wird. »Ein leichter Sinn trägt alles!«, heißt es im »Werther«. Vielleicht gelingt mit dem nächsten Teil ja etwas mehr Tiefe. Aber bitte keine Geschichte des Biedermeier.

Nächste Vorstellungen: 12., 15. und 26. Juni
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

www.volksbuehne.berlin

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