- Kommentare
- Housing First
Selbstbestimmt und unperfekt
Das Projekt Habersaathstraße darf seine Macken haben, findet Nora Noll
Was Sven, ein neuer Bewohner der Habersaathstraße 40-48, erzählt, klingt ein bisschen desillusioniert. Es gebe viele Konflikte und Spannungen in der Gruppe der knapp 50 ehemals Wohnungslosen, die seit über einem halben Jahr in dem vormals teil-leerstehendem Gebäudekomplex wohnen. Er selbst kümmere sich um so einiges, nehme Essensspenden an, repariere Türen, trenne den Müll. Andere hingegen würden sich gar nicht um die Hausgemeinschaft bemühen.
Böse Stimmen könnten aus Svens Bericht ein Argument für weniger Selbstbestimmung stricken. Könnten sagen: Die Idee von Housing First, also wohnungslose Menschen zuallererst mit Wohnraum zu versorgen, sei naiv. Die Probleme nach Jahren auf der Platte seien zu groß, um ein »ordentliches« Leben in vier Wänden zu führen. Das Ideal der Selbstbestimmung sei an der Realität gescheitert.
Doch Selbstbestimmung muss nicht perfekt sein. Das Experiment Habersaathstraße darf seine Macken haben. Und es ist wichtig, die Probleme nicht aus strategischen Gründen zu verdrängen. Natürlich, bei umstrittenen und nicht wirklich legalen Projekten liegt der Gedanke nahe, vor allem das Positive hervorzuheben. Und positive Aspekte gibt es ja viele: Bewohner*innen schaffen es aus der Abhängigkeit, können eine Tür hinter sich schließen und sich um andere Sorgen als einen Schlafplatz kümmern.
Aber wenn in der Kommunikation nach außen neben all dem Guten die Probleme verdrängt werden, um das Projekt ja nicht zu gefährden, schadet dies mehr, als dass es hilft. Denn dann entsteht irgendwann der Eindruck, ein Raum für die Marginalisierten, Ausgeschlossenen und Unterdrückten unserer Gesellschaft müsste jeder Güte-Prüfung standhalten, um von der Mehrheitsgesellschaft toleriert zu werden. Müsste sauber, entspannt, konfliktlos und alles in allem widerspruchsfrei gut sein. Diesen Maßstäben zu entsprechen, ist letztlich unmöglich. Deshalb sollte es lieber heißen: Ja, es wird sich gezofft, und ja, das ist manchmal nicht so schön. Aber es ist allemal besser, als fremdbestimmt in einer staatlichen Unterbringung zu leben. Deal with it.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.