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  • Kunststoffe

Hammer und Zirkel im Plastekranz

Seit 1958 versuchte die DDR mit Hilfe der Umstellung auf eine vermehrte Nutzung von Kunststoffen die Modernisierung ihrer Ökonomie

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 6 Min.

Neunzehnhundertachtundfünfzig war das Jahr, in dem die Verantwortlichen in SED und DDR so stark wie niemals zuvor oder danach von einem modernen und leistungsfähigen Sozialismus träumten. Vielleicht auch nur verzweifelt darauf hofften: Denn bereits im Juni 1953 hatten sie erfahren müssen, wie fragil die Akzeptanz gegenüber dem neuen Regime war, und den wenigen Zehntausenden Übersiedlern aus der Bundesrepublik standen in der Folge jährlich Hunderttausende Bürger*innen gegenüber, die dem »Sozialismus in den Farben Deutschlands« den Rücken kehrten. Allein in den Jahren 1956 und 1957 betrug der Nettobevölkerungsabfluss der DDR über eine halbe Million. Der Grund dafür war leicht auszumachen. Im Westen Deutschlands lockte ein Lebensstandard, der den zwischen Elbe und Oder insbesondere für junge und gut ausgebildete Menschen weit in den Schatten stellte. Denn trotz teilweise zweistelliger Wachstumsraten in den Jahren nach 1949 hatte es die Regierung in Ost-Berlin nicht vermocht, die Produktivitätslücke gegenüber der auch mit tätiger Hilfe der USA und ihres Marshallplans ausgestatteten und sich inmitten ihrer »Wirtschaftswunder-Zeiten« befindenden Bundesrepublik zu verringern oder gar zu schließen.

Nachdem im ersten Jahrzehnt die Aufräumarbeiten in dem durch den Krieg und die Reparationen an die Sowjetunion viel stärker zerstörten Osten des Landes – die DDR verfügte 1950 über kaum ein Siebtel des volkswirtschaftlichen Reichtums der etwa 2,7-mal einwohnerreicheren Bundesrepublik – und die Rekonstruktion der Schwerindustrie im Vordergrund gestanden hatten, gab der V. Parteitag der SED im Juli 1958 schließlich das vor diesem wirtschaftlichen Hintergrund wahnwitzige Ziel aus, den in der Bundesrepublik herrschenden Lebensstandard in nur drei Jahren zu übertreffen. Dafür sollte nun »die Produktion von Konsumgütern zum Schwerpunkt der Wirtschaftsentwicklung« gemacht und der junge Staat damit auch innenpolitisch stabilisiert werden. Im Zentrum aller Überlegungen müsse künftig stehen, formulierte etwa der Leiter der Wirtschaftskommission im Politbüro der SED und spätere Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR Erich Apel, »die Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft umfassend bewiesen wird«.

Der Stoff, aus dem diese Träume waren: Plastik. Denn Kunststoffe sollten die künftigen »Roh- und Werkstoffe für alle Industriezweige und zur Herstellung der Waren des Massenbedarfs sein«, wie SED-Parteichef Walter Ulbricht auf der großen Chemiekonferenz in Leuna, die den Auftakt für die Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse darstellen sollte, nur vier Monate später vor den wichtigsten Vertretern von Partei und Industrie verkündete. In möglichst großem Maße, so der starke Mann in der DDR weiter, sollten künftig Produkte aus traditionellen Materialien, wie Holz, Metall, Glas oder Keramik, durch solche aus Plastik ersetzt werden. Und nicht nur der Einsparung der in der DDR knappen und auf dem Weltmarkt teuren Rohstoffe sollte diese industriepolitische Wende unter dem Motto »Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit« dienen. Auch ein angesichts der Krise im Land nicht zu unterschätzendes Modernisierungsversprechen war mit ihr verbunden: Denn »die schöne Gestaltung, die Zweckmäßigkeit und die herrlichen Farben der chemischen Erzeugnisse« könnten mithelfen, warb Ulbricht, »das Leben in unserem Land schöner und interessanter zu gestalten«. Und nicht nur dort. Denn nach dem Willen der politischen Führung sollte die Plaste aus DDR- Produktion auch zum Exportschlager avancieren: Mit einer erfolgreichen Entwicklung könnte man binnen weniger Jahre gar »die Bevölkerung Westdeutschlands nicht nur politisch und moralisch, sondern auch materiell unterstützen«, heißt es im Beschlussdokument der Konferenz voller Euphorie und mit einer gehörigen Portion Voluntarismus.

Umgehend machten sich die zentralen Planungsinstanzen ans Werk. Bereits für den ab 1959 in Kraft tretenden neuen Siebenjahrplan wurde festgelegt, dass die »Produktion von Konsumgütern aus Plaste in schnellem Tempo zu entwickeln« sei: Während bis 1965 eine Verdoppelung des Ausstoßes der gesamten Chemieproduktion erfolgen sollte, war bei den Kunststoffen eine Steigerung um 250 Prozent und bei synthetischen Fasern gar eine um 460 Prozent vorgesehen. Aber nicht nur quantitativ sollte es vorangehen. Auch die Qualität der Kunststoffe aus eigener Produktion – immerhin war die DDR damals bereits deren siebtgrößter Produzent weltweit, wenn auch mit gehörigem Abstand etwa zur BRD, deren Kapazitäten etwa dem Fünffachen derer der DDR entsprachen – geriet zunehmend in den Fokus. Vor allem der Ersetzung der traditionell auf Kohlebasis produzierten Duroplaste- und PVC-Materialien, deren gemeinsamer Anteil in der DDR noch bei über 86 Prozent lag, durch die sich überall im Westen durchsetzenden erdölbasierten Kunststoffe, die sich durch höhere Qualität, Formbarkeit und Haltbarkeit auszeichneten, galt nun die Aufmerksamkeit. Mit dem beginnenden Bau der über 5.000 Kilometer langen Erdölpipeline von der Sowjetunion nach Schwedt und der dortigen Errichtung des Petrolchemischen Kombinats zur Verarbeitung des Rohöls sollte schließlich die Grundlage für diesen Umbau geschaffen werden.

Zudem erforderte die Chemie- und Kunststoffoffensive einen grundlegenden Strukturwandel bei den Betrieben dieses Industriezweiges. Denn die Zersplitterung in 850 plasteverarbeitende Betriebe, von denen gut drei Viertel, meist handelte es sich um Kleinunternehmen, noch in privater Hand waren, verschärfte einerseits die notorische Materialknappheit und führte andererseits dazu, dass von einer wirklichen Konzentration auf hochwertige und volkswirtschaftlich benötigte Produkte kaum die Rede sein konnte. »Wir haben einen Zustand«, wurde in der Fachzeitschrift des Gewerbes, »Plaste und Kautschuk«, bereits 1956 moniert, »wie er in der kapitalistischen Wirtschaft üblich ist; jeder produziert das, was ihm paßt und womit er glaubt, Umsatz erzielen zu können.« Dem wurde zunächst mit einer Zentralisierung durch die Gründung moderner Großbetriebe zur Plastikverarbeitung, etwa in Schwedt oder Staaken, begegnet. Andererseits schuf man mittels Weisung aus Ost-Berlin mit der in Halle ansässigen Vereinigung Volkseigener Betriebe Plastverarbeitung (VVB) ein Lenkungsorgan, das künftig über die Verteilung der Rohmaterialien ebenso bestimmte wie über die betriebliche Zuordnung bestimmter Produktionslinien und die Preisgestaltung. Vor allem die Zusammenarbeit mit der Hochschule für Formgestaltung, ebenfalls in Halle angesiedelt, in der das Design der teilweise noch bis heute als Sammlerstücke begehrten »1.000 kleinen Dinge« für die Haushalte zwischen Rostock und Karl-Marx-Stadt entwickelt und verbindlich festgelegt wurde, erlaubte dann schließlich eine Großserienfertigung, die nicht nur politisch erwünscht, sondern auch wirtschaftlich effizienter war.

Begleitet von einer intensiven Propagierung des Kunststoffs als »Werkstoff moderner Technik«, wie es etwa im zentralen Chemie-Schulbuch für die 7. und 8. Klasse hieß, eroberten Plastikprodukte tatsächlich innerhalb eines Jahrzehnts die Haushalte in der DDR und veränderten die komplette Produktwelt und mit ihr die Lebenswelt der Menschen. »Märchenhafte Möglichkeiten der Produktivität und des allgemeinen Wohlstands« prophezeiten die Autor*innen des Fachbuchs »Schöpfung ohne Grenzen« 1966. Diese Träume aber erfüllten sich nicht. Zwar versiebenfachte die DDR bis 1989 ihre Plasteherstellung, weder aber ließ sich dadurch der Lebensstandard der Bevölkerung im Verhältnis zur Bundesrepublik steigern, noch wurde die DDR unabhängiger von Importen. Im Gegenteil: Während die Umstellung auf die erdölbasierten Kunststoffe Polyethylen und Polypropylen aufgrund des Rohölmangels überhaupt erst Ende der 1960er gelungen war, stiegen die Importe von Kunststoffen und Rohmaterialien aus dem nichtsozialistischen Ausland nach der Ölkrise von 1973 und der Verringerung der Liefermengen aus der UdSSR wieder sprunghaft an, um in den Außenhandelsbilanzen kaum auszugleichende 224 Prozent. Die verheerenden ökologischen Folgen der danach erfolgten Rückbesinnung auf Kohle als Basisstoff, die ein autarkeres Wirtschaften erlauben sollte, können teilweise noch heute im ehemaligen Chemiedreieck Halle/Merseburg/Bitterfeld begutachtet werden. Spätestens hier wurde deutlich, dass die Verheißungen von 1958 gescheitert waren.

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