Sag niemals nie zum Stadtkanal

Potsdam soll sich von einem jahrzehntealten Tagtraum verabschieden

Jetzt bin ich schon eine halbe Stunde hier, und es wollte noch keiner Geld von mir. Das ist eine ungewöhnliche Situation für mich«, gesteht Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD). Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) ist um eine prompte Antwort nicht verlegen. »Kommt noch. Wir machen noch ein Preisschild dran«, sagt er. Die beiden kennen sich schon sehr lange. Ihr Umgang miteinander ist familiär. Schubert hat einmal das Büro von Geywitz geleitet, als sie noch Landtagsabgeordnete in Brandenburg war. »Du kannst Klara zu mir sagen«, erlaubt die Ministerin dem Oberbürgermeister erwartungsgemäß, als sie sich Entwürfe von Studierenden der Fachhochschule Potsdam für das Quartier Am Kanal ansehen. Dazu ist Geywitz ins Kunsthaus sans titre an der Französischen Straße gekommen, die von der Straße Am Kanal abzweigt.

200 Jahre lang besaß Potsdam einen von der Havel gespeisten Stadtkanal, auf dem Kähne Baumaterial und Waren transportierten. Doch dazu wurde er nicht mehr gebraucht und in den 1960er Jahren zugeschüttet. Geblieben sind der Name der Straße, eine wehmütige Erinnerung und der Traum, den Kanal auf seiner ganzen Länge von 1,8 Kilometern wiederherzustellen. Für einen kleinen Teilabschnitt ist das zur Bundesgartenschau 2001 gelungen. Aber auch dieser Abschnitt ist meistens nur eine tiefer gelegte Fußgängerzone. Für das jährliche Sportereignis des Kanalsprints wird er mit Wasser gefüllt, nicht aber während der Corona-Pandemie. Da hockten sich die Kanuten auf Ergometer und der Wettkampf wurde digital simuliert.

Noch geltende Beschlusslage der Stadtverordnetenversammlung ist, den Kanal zurückzugewinnen. Rathauschef Schubert ist nach eigenen Worten fasziniert, dass es noch immer Menschen gibt, die glauben, der erträumte komplette Stadtkanal könne in absehbarer Zeit Wirklichkeit werden. Denn dafür werden auf Jahrzehnte hinaus die nötigen finanziellen Mittel fehlen, und es gibt auch neuralgische Punkte, wo das Projekt an Grenzen stößt. Schließlich fährt heute die Straßenbahn, wo einst Kähne entlangschipperten.

Schubert und seine Stadtverwaltung möchten sich deshalb voraussichtlich im Herbst vom Stadtparlament den Segen dafür holen, genauer über eine Zwischenlösung nachzudenken. Denn so, wie es jetzt ist, sei die Gegend ein verschenker Stadtraum. Bedingung für eine Neugestaltung: Die unter der Oberfläche verborgenen Reste des historischen Stadtkanals dürfen nicht angetastet werden. Denn die theoretische Chance, ihn irgendwann doch noch komplett freizulegen, soll nicht vergeben werden. Unter dieser Bedingung glaubt Schubert, eine Mehrheit für sein Herzensprojekt erlangen zu können. Das Stadtparlament soll einen Spielraum eröffnen, um an dem Punkt weiterzumachen, an den 17 Studierende der Fachhochschule mit ihrem Professor Karl-Heinz Winkens und verschiedenen Experten, zum Beispiel für Denkmalpflege und Hydrologie, bei einer Ideenwerkstatt von April bis Juni gekommen sind. In vier Teams haben sie gearbeitet. Im Kunsthaus sans titre sind ihre Entwürfe ausgestellt.

Der Betrachter sieht beispielsweise einen Teich, aus Regenwasser gespeist, das von den Dächern der umliegenden Wohnhäuser abgeleitet wird. Den Städtebau und Architektur studierenden jungen Männern und Frauen ist in intensiver Disskussion klar geworden: Wasser lässt sich angesichts des Klimawandels künftig wohl kaum in großen Mengen aus der Havel abzapfen oder vom Grundwasser heraufpumpen. Entsprechend haben sie ihre ersten Entwürfe umgearbeitet. Zu sehen gibt es dennoch Pläne mit einem flachen Wasserbecken quer über den Platz der Einheit oder mit Surfern oder sogar Paddelbooten auf einem Kanal, der dem historischen Vorbild schon ziemlich nahe kommt. Noch gibt es für dergleichen Ideen keinerlei Kostenschätzung, für die sich die Bauministerin brennend interessiert hätte. Eins ist aber klar: Auch wenn es deutlich günstiger wird als der klassische Stadtkanal, so gibt es keine Neugestaltung zum Nulltarif.

Und hier setzt die Kritik des Stadtverordneten Sascha Krämer (Linke) an. »Ein durchgängig schiffbarer Kanal, wie ihn die CDU sich vorstellt, das ist eine Illusion«, bestätigt er. Aber auch mit einer sparsameren Neugestaltung hat er seine Probleme: »Ich finde den Hype um den Stadtkanal Quatsch. Es gibt wichtigere Themen in unserer Stadt.« Dabei gefallen Krämer die Entwürfe der Studierenden durchaus. Er hat sich alles genau angesehen. Für seinen Geschmack könnte es dabei sogar gern ein bisschen mehr Wasser geben, etwas zum Planschen für die Kinder. Das wäre doch herrlich. Zur Zeit sieht der Stadtverordnete allerdings keinen finanziellen Spielraum für solche Vorhaben. Es befremdet ihn, mit welcher Energie der Oberbürgermeister hier ans Werk geht. »Wenn wir uns nur mit so viel Verve und Leidenschaft um die sozialen Ungerechtigkeiten kümmern würden wie um solche Projekte – ach, könnten wir viel erreichen«, sagt Krämer. Der Stadtkanal sei ein zweitrangiges Thema.

Oberbürgermeister Schubert macht sich keine Illusionen über das vorzulegende Tempo. »Da ist ein dickes Brett zu bohren«, meint er. Dafür sei mehr Zeit erforderlich als eine Legislaturperiode von acht Jahren. Dass es wichtigere Themen gebe, gesteht er zu und nennt als Beispiel den Wohnungsbau. Immerhin herrscht in Potsdam Wohnungsnot.

Nichtsdestotrotz bewegt der Stadtkanal die Gemüter. Die Ausstellung der Entwürfe im Kunsthaus sans titre gibt den Besuchern Raum für Kommentare. An manchen Tagen kommen bis zu 70 Leute, und einige haben aufgeschrieben, was sie von den Ideen zur Neugestaltung halten. »Wozu etwas neu denken, was schon im Original perfekt war?«, fragt ein hartnäckiger Befürworter des historischen Stadtkanals. Bestätigen kann Professor Winkens von der Fachhochschule: »Es war ein sehr prägender Stadtraum. Das ist verloren gegangen.« Das belegen Fotos aus den Jahren 1900 und 2022, die zum Vergleich in der Ausstellung nebeneinander gezeigt werden. Gemessen am Eindruck von einst präsentiert sich die Gegend heute als eine deprimierende Einöde, in der niemand gern lange verweilen möchte. Aber ein Besucher hinterließ auch die Anmerkung: »Wofür benötigen wir einen schiffbaren Kanal in der Stadt? Solch ein Kanal müsste dann einigermaßen tief sein. Das verleitet leicht zur Müllentsorgung. Das Wasser wird trüb sein.«

Oberbürgermeister Schubert schwärmt unverdrossen von einer Zwischenlösung: »Kinder werfen kleine Steine ins Wasser. Die Straßencafés werden belebt sein. Das wird wunderbar. Es ist möglich!« Was Fördermittel betrifft, sagt Bauministerin Geywitz zum Abschied: »Wir bleiben im Gespräch.«

Ausstellung zur Ideenwerkstadt »Stadtraum Am Kanal«, Kunsthaus sans titre, Französische Straße 18 in Potsdam, 9. und 10. Juli, 14 bis 18 Uhr

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