Ökologische Totalverweigerung

Christoph Ruf kritisiert die Ignoranz der Bundesregierung gegenüber Inflation und Klimakatastrophe

Viel hätte nicht gefehlt und ich hätte diese Kolumne über den verwunderlichen Vorgang geschrieben, dass die Berliner Humboldt-Universität, die das Ganze nun nachholen will, den Bio-Vortrag einer Biologin abgesagt hat. Zum einen, weil einige Jurist*innen ihn nicht wissenschaftlich fanden. Und zum anderen, weil der Verdacht im Raum stand, die referierende Biologie-Doktorandin verfolge bei ihrer Behauptung, es gebe biologisch gesehen nur zwei Geschlechter, politische Absichten. Was die Biologin Marie-Luise Vollbrecht meint, hätte man in der anschließenden Diskussion herausfinden können. Aber wer braucht Diskussionen, wenn er doch schon eine »Haltung« hat? Ich bin am Freitagabend noch mal in mich gegangen und habe mir gesagt, dass man Themen, die auf der Dringlichkeitsskala der meisten Menschen eher nachgeordnet gelagert sein dürften, vielleicht besser ganz ignoriert. 

Am Samstag ploppte auf meinem Handy ein Foto auf, bei dem ich nicht wusste, ob ich kotzen, weinen oder lachen sollte: Darauf war Außenministerin Annalena Baerbock zu sehen, die mit nackten Füßen und nachdenklichem Blick im Sand der Südseeinsel Palau herumwühlt, sich gar traurig ob des Klimawandels und der baldigen Überschwemmung des Atolls (letzteres hat sie jetzt nicht so explizit gesagt) zeigte und deshalb eine »Sondergesandte für die pazifischen Inselstaaten« berief. Was diese Sondergesandte Beate Grzeski jetzt genau machen soll, bleibt nebulös. Das gehört zum Markenkern dieser Regierung aus SPD, Grünen und FDP. In einem ersten Schritt könnte sie der Ministerin vielleicht dabei helfen, mit den Zehen im Sand herumzustochern. Vielleicht findet sie dort ja Baerbocks Kurzzeitgedächtnis. Dass ihre Regierungskoalition mit der Mehrheit im Bundestag gerade eben die umgehende Verfeuerung von noch mehr Braunkohle beschlossen hat, scheint der Ministerin jedenfalls entfallen zu sein. Doch immerhin funktioniert die Tränendrüse. Die Menschen hier müssten sich eine »schreckliche Frage« stellen, weiß die Ministerin. Die, ob ihre Häuser »in 30 oder 50 Jahren noch hier sind«. Die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind. Und wir alle.

Gegen die ökologische Totalverweigerung dieser Bundesregierung wird an den Universitäten interessanterweise nicht demonstriert. Irgendwie hat man auch nicht den Eindruck, dass allzu viele Intellektuelle sich schon darüber Gedanken gemacht haben, was es bedeutet, wenn in den kommenden Monaten die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten weiter um acht Prozent steigen werden. Bei meinen letzten Einkäufen hatte ich eher den Eindruck, es sind 28 Prozent. Das wird zur Folge haben, dass in nicht allzu ferner Zukunft aus einigen Millionen Menschen, die am 22. eines Monats nicht mehr wissen, wie sie die restlichen Tage finanzieren sollen, ziemlich viele Millionen geworden sein werden. Und die könnten den Eindruck bekommen, dass die allermeisten Leute in der Politik, den Medien und den Universitäten sich einen Scheißdreck für sie interessieren, weil ihnen längst schwindlig geworden ist vom ständigen Kreisen um ihre eigenen (es sind immer ihre eigenen) Befindlichkeiten im Mikrokosmos. Warum sie diesen Eindruck bekommen? Weil er richtig ist.

Eine der wenigen Politikerinnen, die verstanden hat, dass linke Politik nur dann legitimiert ist, wenn sie sich den realen Problemen der Menschen annimmt, ist die frühere Linksfraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, die an dieser Stelle vergangene Woche wegen ihres unsolidarischen Verhaltens nach dem Parteitag der Linken in Erfurt gescholten wurde. Vielleicht war das selbstgerecht und falsch: Es gibt dieser Tage schließlich genügend Anlässe, die gute Erziehung zu vergessen, wenn man sich anschaut, mit welcher Inbrunst sich Menschen, die sich für links halten, an Themen abarbeiten, die nur sie selbst interessieren. War es nicht einmal die allergrundsätzlichste Überzeugung der politischen Linken, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern, Hautfarben und Religionen verlaufen? Sondern zwischen oben und unten? 

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