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Im Bummelzug der Weltgeschichte

Zwischen Kitsch und erhobenem Zeigefinger: In einem interdisziplinären Großprojekt errichtet das Staatstheater Kassel einen »Temple of Alternative Histories«

Wenig Tiefe trotz großer Bilder: "Temple of Alternative Histories" am Staatstheater Kassel
Wenig Tiefe trotz großer Bilder: "Temple of Alternative Histories" am Staatstheater Kassel

Vermutlich ließe sich so einiges erzählen über das Wesen der Bundesrepublik, betrachtete man die Architekturgeschichte ihrer Bahnhöfe. Dieses Land zehrt von Anmut und Schönheit einer weit, weit zurückliegenden Epoche. Die Neubauten der Nachkriegszeit sind zumeist nur noch Stadtlandschaftsverschandelungen, Orte einer konsumistischen Daseinsform. Und wo dem Konsumismus mangels Kaufkraft nicht gehuldigt werden kann, in Kleinstädten etwa, da lässt man auch die Bahnhöfe verfallen oder verkauft sie gleich an den Meistbietenden.

Der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe jedenfalls ist ein ganz besonderer Verkehrsknotenpunkt. Sehr günstig gelegen, hochfrequentiert – und auch außergewöhnlich hässlich. Sicher, ohne Beton lässt sich ein Bahnhof schwerlich bauen, aber die schlimmsten Auswüchse des Brutalismus werden an diesem menschenfeindlichen Ort offenbar. Das weiß jeder, der hier zum Umstieg verpflichtet wurde und eine Wartezeit zu fristen hatte mit dem unverwechselbaren Blick auf ein durchdringendes Grau.

Hier landen in diesem Sommer wochenends massenhaft Menschen an, um die Documenta fifteen zu besuchen. Schnell flieht man den Bahnhof und findet sich am zentralen Friedrichsplatz ein, dem Herzstück der Stadt. Auch dem sporadischen Kassel-Reisenden kommt der Ort, medial bedingt, mittlerweile vertraut vor. Das Banner mit dem Titel »People’s Justice« der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi, gespickt mit antisemitischen Details, wurde hier – gehängt, verhüllt, entfernt.

Ein neuer Documenta-Streit hat am Friedrichsplatz seinen Ausgangspunkt gefunden. Und im hier gelegenen Ottoneum kann man – pardon, konnte man! – die Videoinstallation »Animal Spirit« der Künstlerin Hito Steyerl betrachten, wohl einer der wichtigsten Namen der zeitgenössischen Kunstwelt und ein Schmuckstück der diesjährigen Documenta. Sie hat ihre Arbeit abbauen lassen, da sie nicht an die Fähigkeit der Leitung der Kunstschau glauben könne, der komplexen Situation gerecht zu werden. Interesse, im guten wie im schlechten Sinne, weckt bei dieser Documenta vor allem das, was nicht zu sehen und zu vernehmen ist.

Am Friedrichsplatz befindet sich auch das Staatstheater Kassel. Die nun zu Ende gehende Spielzeit war die erste unter der Leitung von Generalintendant Florian Lutz, der zuvor der Oper Halle vorstand und dem dortigen Musiktheater einen heftigen Energiestoß bescherte, mit einer Wirkung, die über das Lokale weit hinausreichte. Mit einem spartenübergreifenden Projekt, in dem Oper, Schauspiel und Tanz zusammenkommen und das den Titel »Temple of Alternative Histories« trägt, wurde zum Grande Finale geladen. (Die Kinder- und Jugendtheatersparte wartete mit einer eigenen Premiere, »Mapping Utopia«, am folgenden Tag auf.)

Regie bei diesem vierstündigen Großprojekt führte Thorleifur Örn Arnarsson, der dabei von der bildenden Künstlerin Anna Rún Tryggvadóttir unterstützt wurde. Kurz gesagt: Der Isländer ist kein Mann für beschauliche Kammerspiele. Das Epos »Die Edda«, die aischyleische »Orestie« und die »Odyssee« des Homer sind die monumentalen Stoffe, die er in den vergangenen Jahren auf die Bühne gebracht hat. Nun folgte also mit der Premiere am Sonnabend ein weiteres groß angelegtes Spektakel, das kein übersichtlicheres Thema gefunden hat als das Verhältnis des Menschen zur Natur.

Verfolgt wird an diesem Theaterabend die Entwicklung des »Homo sapiens« zum »Homo hybris«, wie es im Text heißt. Eigentlich scheint es aber vor allem um die Hybris des Thorleifur Örn Arnarsson zu gehen. Die Gigantomanie ist reiner Selbstzweck und soll inhaltliche Leerstellen kaschieren.

Es reicht nicht, möglichst viele Tänzer und Sänger und Schauspieler auf der Bühne zu versammeln, wenn die inszenatorische Arbeit mit ihnen im Nichts versandet. Der übervolle Abend ist eine Aneinanderreihung von Einfällen, für ihre Verdichtung und Verzahnung hat wohl die Probenzeit nicht mehr gereicht. Es sind Schlaglichter auf die Menschheitsgeschichte, die assoziativ aneinandergereiht werden. Man tut damit der postmodernen Mär Genüge, die Probleme seien so komplex, dass man ihnen mit unseren einfachen Geschichten nicht mehr gerecht werden könnte.

Nüchtern betrachtet, liegt die Sache anders: Wir wissen, dass der Klimawandel geradewegs in die Katastrophe führt, und doch sind wir unfähig, ins Handeln zu kommen. Was ist das, wenn nicht der Stoff für eine große Tragödie?

Alexander Kluge hat im Gespräch mit dem Philosophen Slavoj Žižek einmal richtigerweise bemerkt, die Natur sei mindestens gleichgültig, möglicherweise aber zerstörerisch. Weit hinter diese Erkenntnis zurückfallend, singt »Temple of Alternative Histories« das Loblied auf Gaia, die gute Mutter Natur. Dass eine so ausgerichtete Esoterik hilfreich sein wird angesichts der realen Probleme durch Klimawandel und Umweltzerstörung, muss ernsthaft bezweifelt werden.

Seinen Anfang nimmt der Bühnenabend, der aus einer Kooperation des Staatstheaters Kassel mit der in der nordhessischen Stadt ansässigen Universität und den dortigen Scientists for Future hervorgegangen ist, mit Darstellern, die sich minutenlang auf der grünen Bühnenlandschaft räkeln. Es handelt sich um »Das erste Erwachen«, wie man den Übertiteln entnehmen kann. Von dort geht es weiter zu einer Kritik der Naturromantik (die man bei der Anlage des Spektakels nicht wirklich ernst nehmen kann), um Industrialisierung und Kapitalismus, um Krieg und Gewalt. Beschränken möchte man sich offensichtlich nicht, zu wirklicher Tiefe vordringen allerdings auch nicht.

Streckenweise verrennt sich die Inszenierung in wilden Belehrungen und verkommt damit zum pädagogischen Erklärtheater. Und doch fehlt es letztlich an der konsequenten Haltung, auch ohne ironischen Gestus und Distanzierung qua Selbstkommentar etwas auf die Bühne zu bringen, zu dem man auch steht.

Dass es am Staatstheater Kassel das Potenzial gegeben hätte, einen Abend von weiter reichender künstlerischer Größe zu erarbeiten, erahnt man, wenn man die versammelten Ensembles auf der Bühne sieht. Demütigenderweise nötigt sie der Regisseur aber dazu, Bäume zu verkörpern oder Umbauarbeiten vorzunehmen. Thorleifur Örn Arnarsson schöpft aus einem reichen Fundus an Quellen sehr unterschiedlicher Qualität. Immer wieder greift er auf Richard Wagners »Ring des Nibelungen« zurück, der bedenklicherweise in der Inszenierung als »Hauptwerk der deutschen Kulturgeschichte« bezeichnet wird. In der ernsthaften Auseinandersetzung mit einem Klassiker zeigt der Regisseur, dass er durchaus zur Entwicklung großer Bilder in der Lage ist. Einfach einen Klassiker der Musiktheatergeschichte auf die Bühne zu bringen, wäre ihm aber offenbar zu ordinär gewesen. Schließlich ließ er sich bis zum Schlussapplaus zu allerhand weiteren Spielarten des Ethnokitsches und theatral aufbereiteten Allgemeinplätzen zur Lage der Nation hinreißen.

Es scheint, als würde, bei allen Unterschieden, ein Theaterabend wie »Temple of Alternative Histories« mit ähnlichen Symptomen kämpfen wie die Documenta. Mit einer Flut an Informationen und viel guter Absicht buhlt man um ein Publikum – und vergisst dabei die Kunst. So hoffnungslos? Aber nein, im Gegensatz zum Klotz in Kassel-Wilhelmshöhe ist das Theater ja zum Glück kein Sackbahnhof.

Nächste Vorstellungen: 16., 17. und 19. Juli
www.staatstheater-kassel.de

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