»Wenn eine Regierung Unschuldige tötet, sollte das jeder kritisieren dürfen«

Moskauer Kommunalpolitiker des liberalen Oppositionsbündnisses Solidarnost werden politisch verfolgt, weil sie sich gegen den Krieg der russischen Armee in der Ukraine äußern.

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 8 Min.

Frau Kotjonotschkina, letzte Woche hat ein Gericht Ihren Fraktionskollegen und Bezirksratsabgeordneten Alexej Gorinow im Moskauer Bezirk Krasnoselski zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt. Seine Anwälte haben Berufung eingelegt gegen das Urteil, mit dem erstmals ein Mandatsträger auf Grundlage des neuen Strafrechtsparagrafen 207.3 wegen Verbreitung »wissentlich falscher Informationen« über die russischen Streitkräfte verurteilt wurde. Befürchten auch Sie einen Prozess?

Ich habe Russland verlassen, nachdem eine regelrechte mediale und juristische Jagd auf mich losging. Ohne Schengen-Visum konnte ich nicht in die EU. Also bin ich über Georgien nach Europa. Aus Sicherheitsgründen möchte ich nicht sagen, wo genau ich mich aufhalte. Ende April hat mich das Gericht in Abwesenheit in mehreren Punkten angeklagt, Haftbefehl erlassen und mich auch auf die Fahndungsliste gesetzt.

Interview

Das Oppositionsbündnis Solidarnost wurde von Garry Kasparow, Ilja Jaschin und dem ermordeten Boris Nemzow gegründet. Bei den Kommunalwahlen 2017 gewann es sieben von zehn Sitzen der Bezirksversammlung im Moskauer Stadtteil Krasnoselski. Seit 2021 ist die Solidarnost-Politikerin Jelena Kotjonotschkina Leiterin der örtlichen Verwaltung und Vorsitzende der Bezirksversammlung. Als sie sich kritisch über den Ukraine-Krieg geäußert hat, geriet sie ins Visier der Strafermittler. Benjamin Beutler befragte sie über das Straflager-Urteil gegen ihren Fraktionskollegen Alexej Gorinow, die Anklage gegen Solidarnost-Gründer Ilja Jaschin und ihre Flucht ins Ausland. Das Interview wurde schriftlich geführt.

Kurz nach Kriegsbeginn hat die Duma das Strafrecht gegen »Desinformation« und »Diskreditierung« der Streitkräfte verschärft und später auf alle im Ukraine-Krieg beteiligten Staatsorgane wie Nationalgarde, Botschaften und Rettungsdienste ausgeweitet. Seitdem werden Dutzende Strafverfahren wegen der Verbreitung »wissentlich falscher Informationen« eröffnet. Was genau wurde Gorinow zur Last gelegt?

Im März fand eine Bezirksratssitzung statt, wo Solidarnost mit sieben Abgeordneten vertreten ist. Gorinow gab eine Erklärung ab: Dass die kommenden Feiertage, auch der zum traditionellen Tag des Sieges am 9. Mai, wegen des Krieges nicht stattfinden sollen. Weil die russischen Streitkräfte ukrainische Bürger töten, darunter auch Kinder. Weil wir uns für die sofortige Beendigung des Krieges stark machen müssen, statt den Tag des Sieges mit Militärparaden zu feiern oder im Bezirk einen Malwettbewerb für Kinder zu beschließen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Vorschlag rein deklaratorisch war. Die Feiertage fanden ohnehin statt. Gorinow empfand es schlicht als seine Pflicht, das alles auszusprechen. Und ich habe ihn dabei unterstützt. Auch ich erklärte, Russland sei ein faschistischer Staat geworden. Besonders die offiziellen Siegesfeierlichkeiten sind zum Merkmal dieses faschistischen Staates geworden. Die Staatsbeamten richten diese Feierlichkeiten aus, sie erziehen uns zu Faschisten. Und das auf Staatskosten.

Was passierte nach dieser Ratssitzung?

Wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, posteten wir die Aufzeichnung der Sitzung auf Youtube. Die Staatsduma-Abgeordneten Alexander Chinstein und Oleg Leonow von der Regierungspartei Einiges Russland und der wirtschaftsliberalen Blockpartei Neue Leute erstellten daraufhin Berichte und leiteten sie an die Generalstaatsanwaltschaft weiter. Es heißt, dass Chinstein der Oberdenunziant sei. In unserem Land sind Denunziationen zu einer gewöhnlichen Praxis für die Einleitung staatlicher Strafverfahren geworden. Von der Partei Gerechtes Russland (eine antiliberale, nationalistische Blockpartei, Anm. d. Red.) gibt es ein Denunziationsportal für »Feinde und Verräter«. Telegram-Chatbots für Denunziationen wurden eingerichtet. Derzeit werden in Russland sehr viele Oppositionelle denunziert, glücklicherweise nicht so viele wie im Stalinismus. Aber ich vermute mehr als in der späten UdSSR. Putin selbst hat die Russen aufgefordert, sich von »nationalen Verrätern«, von der »Fünften Kolonne«, von Andersdenkenden »zu reinigen«. Gorinow wurde schließlich verhaftet. Sicherheitsleute haben seine Wohnung durchsucht, Computer und Geräte mitgenommen, sein Bargeld ist auch verschwunden. Unsere Büros der Bezirksversammlung wurden durchsucht, alle Computer beschlagnahmt.

Wegen Ihrer Kritik am »Tag des Sieges« warf Ihnen der Putin-Propagandist Andrej Karaulow in seiner TV-Sendung vor, die Armee beleidigt und gegen Strafrechtsparagraf 354.1 verstoßen zu haben, der die »Rehabilitierung des Nationalsozialismus« unter Strafe stellt.

Es begann eine offene Verfolgung im Staatsfernsehen, in Zeitungen und sozialen Netzwerken. Ich bekam Morddrohungen per Telefon und E-Mail. Die lokale Veteranen-Vereinigung begann, Unterschriften zu sammeln, um mich aus meinem Amt zu entfernen, und das mithilfe der Bezirksregierung und der örtlichen Wahlkommission. Ich erhielt E-Mails wie: »Ihr kritisiert die Regierung. Dazu habt Ihr nicht das Recht. Wo können wir uns über euch beschweren?« Ich habe geantwortet, dass jeder das Recht hat, die Regierung zu kritisieren. Und wenn die Regierung Unschuldige tötet, dann sollte das jeder kritisieren dürfen.

Trotz des Drucks berieten Sie die Bürger Ihres Bezirks weiter.

Ja, ich habe ein Youtube-Video veröffentlicht, in dem ich das Wehrdienstgesetz erklärte, welche Rechte man als Wehrpflichtiger hat. Niemand ist verpflichtet, einen Vertrag für den Kriegseinsatz zu unterzeichnen, es kann auch ein anderer Dienst gewählt werden. Ich habe gezeigt, dass man Putin nicht trauen kann, wenn er sagt, dass er keine Wehrpflichtigen in den Krieg schickt. Er versprach, das Rentenalter nicht zu erhöhen. Dass er die Verfassung nicht ändern würde. Dass er Wohnungen für alle Soldaten bereitstellt. Keines dieser Versprechen hat er gehalten. Nach dem Video leitete die Staatsanwaltschaft ein Verwaltungsverfahren gegen mich ein, nach dem neuen Paragrafen 20.3.3 des Ordnungswidrigkeitenkatalogs über die Diskreditierung der Streitkräfte, der im März eingeführt wurde. Trotz der laufenden Verfahren bin ich weiter gewählte Abgeordnete und erfüllte meine Pflichten. Allerdings ist die Fraktion derzeit nicht beschlussfähig, Gorinow und Jaschin sind im Gefängnis, und mit mir sind zwei weitere Abgeordnete ins Ausland geflohen. Ich habe mich beurlaubt, ohne Bezahlung, berate die Menschen aber weiter, jetzt per Whatsapp.

Wie wirkt sich die Verfolgung der Opposition auf die russische Gesellschaft aus?

Das Urteil stellt einen Präzedenzfall für künftige Gerichtsverfahren dar. Es dient als Richtschnur für Richter bei der Verurteilung nach Artikel 207.3. Wir glauben, dass das harte Strafmaß gegen Gorinow auf seine Schuldverweigerung zurückzuführen ist. Auf seine Anti-Kriegsreden im Gerichtssaal. Gorinow saß hinter Panzerglas, hatte ein handgeschriebenes Anti-Kriegsposter dabei, das er hochhielt, mit Handschellen an seinen Armen. Er ist ein Held. Das Urteil soll Angst machen. Bürger, die im September für die Kommunalwahlen kandidieren wollen, werden Angst haben, über den Krieg zu sprechen. Es gibt oppositionelle Kandidaten, die bereits wegen Kritik an der Armee verurteilt wurden und deshalb von den Wahlen ausgeschlossen sind.

Sie sind also kein Einzelfall.

Vor einigen Tagen ist gegen unseren Fraktionskollegen und Solidarnost-Gründer Ilja Jaschin ein Strafverfahren eröffnet worden, auch wegen angeblicher Falschinformationen über die russische Armee. Jaschin hat sich im Internet kritisch über die Morde im ukrainischen Butscha geäußert. Er sollte eigentlich diese Woche freikommen, er war zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt worden wegen »Ungehorsam gegen Polizeibeamte« bei seiner Verhaftung, während er mit seiner Freundin auf einer Parkbank saß. Jetzt bleibt Jaschin hinter Gittern und wartet auf seinen Prozess. Wladimir Kara-Mursa, der auch für Solidarnost aktiv ist, wurde im März nach demselben Muster wie Jaschin ins Gefängnis gesteckt, erst wegen Widerstands gegen die Polizei inhaftiert, dann nach Paragraf 207.3 angeklagt. Seit der Verabschiedung des Paragrafen wurden schon über 60 Strafverfahren eingeleitet.

Erinnern Sie sich, wie Sie den Kriegsbeginn erlebt haben?

Als Putin seine Truppen auf ukrainisches Gebiet schickte, konnte ich es nicht glauben. Ich war geschockt. Am Vortag habe ich die in den Medien veröffentlichten Warnungen amerikanischer Geheimdienste nicht geglaubt. Ich war mir sicher, Putin blufft. Er tut das oft. Als die ersten Raketen und Bomben Wohngebäude zerstörten und ukrainische Bewohner töteten, habe ich geweint. Ich habe nachts nicht geschlafen, die Nachrichten verfolgt. Putin habe ich verflucht. Ich weine jetzt, während ich das schreibe. Es war für mich schwierig, weiter als Bezirksabgeordnete zu arbeiten. Anwohner kommen mit ihren Alltagsproblemen zu mir, und ich dachte: Wie können Sie sich jetzt um Kleinigkeiten kümmern, während Putin Ukrainer tötet? Mir hat es das Herz gebrochen, als ich Bürgern helfen musste, die den Krieg unterstützen. Ich hatte gehofft, dass sich die Lage in Russland in den ersten zwei Monaten nach Beginn des Krieges ändert. Ich hatte gehofft, dass sich auf den Straßen Moskaus eine Million Bürger dem Krieg widersetzen. Ich hatte darauf gesetzt, dass sich die Elite unter dem Einfluss der Sanktionen spaltet. All das ist nicht eingetreten.

Wie hat sich Russland seit Kriegsbeginn verändert?

Faschismus ist die Diktatur von Nationalisten, schreibt Boris Strugazki (Sowjetischer Schriftsteller, Anm. d. Red.). Putins Russland ist heute eine faschistische Diktatur wie seinerzeit Mussolinis Italien. In den Händen der herrschenden Elite, die im Vereinigten Russland agiert, konzentrieren sich administrative Hebel, finanzielle Ressourcen und der Machtapparat zur Unterdrückung. Die Sicherheitskräfte, die »Silowiki«, quetschen die freie Wirtschaft aus. Beamte bilden die Mittelschicht, ihre Ausgaben übersteigen ihr Einkommen. Wenn Antikorruptionsaktivisten diese Beamten wegen Korruption anprangern, dann sitzen sie am Ende selbst in Haft. All das wird gedeckt von Gerichten. Dissens wird verfolgt. Staatliche Propaganda erfüllt die Menschen mit Hass auf die westliche Demokratie. Auf allen Kanälen wird Angst vorm Westen geschürt. Wir seien umgeben von Feinden wie in einer besetzten Festung. Die Russen seien die Hüter wahrer traditioneller Werte, das wurde 2020 sogar in unsere Verfassung geschrieben. Der Diskurs zum Ukraine-Krieg ist der: 1945 hat Russland den Nationalsozialismus besiegt. Und Russland beendet jetzt den Nazismus in der Ukraine. Ich glaube, Putin hat sich nur deshalb getraut, die Ukraine anzugreifen, weil er zum Diktator geworden ist.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was für ein Russland wünschen Sie sich für die Zukunft?

Das beste Russland der Zukunft wäre eine parlamentarische Republik mit einer tiefen Föderalisierung, einer starken lokalen Selbstverwaltung und der Achtung von Menschenrechten als Grundsatz. Die von Putin eingeführten Repressionsgesetze werden aufgehoben, der FSB-Inlandsgeheimdienst aufgelöst. Alle politischen Gefangenen werden sofort freigelassen.

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