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Verblühende Landschaften

»Lenin auf Schalke«: Der Osten schaut zurück – mit Gregor Sander und der »Zonen-Gaby« in Gelsenkirchen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Es beginnt mit einigen Dosen Büchsenbier vom »Späti«. Nach einem Billardabend wollen sich drei Freunde noch nicht trennen. Man kann sie richtig vor sich sehen, wie sie in Ostberlin um Mitternacht vorm geschlossenen Imbiss von Konnopke in der Schönhauser Allee noch ein bisschen weitertrinken und dabei auf die literarischen Ost-West-Verhältnisse zu sprechen kommen.

Schlüppi, der diesen Spitznamen schon aus NVA-Zeiten hat, regt sich darüber besonders auf: »Wir sind gesellschaftlich völlig unterrepräsentiert. Keine Manager, Bankdirektoren, Universitätsdekane oder so was in der Art. Aber dafür sind wir total überschrieben.« Sogar »ein Buch über die Füße der Menschen in Marzahn« gebe es und auch eins über »den ostdeutschen Mann als Liebhaber«. Der Westen schaut auf den Osten: »Die haben uns gedreht und gewendet wie die Schnitzel in der Pfanne und immer noch nichts begriffen! Jetzt wird es mal Zeit, zurückzugucken.«

Der Autor Gregor Sander, geboren 1968 in Schwerin, wird von seinen beiden Freunden aufgefordert, sein aktuelles Romanprojekt beiseitezulegen und nach Gelsenkirchen zu fahren, gewissermaßen als eine Revanche für solche Bücher wie Moritz von Uslars »Deutschboden«, der vom Westen in eine Brandenburger Kleinstadt gefahren war und darüber berichtete, wie erstaunlich das alles sei.

Mögen es viele im Osten auch nicht wissen: Die ärmste Stadt Deutschlands liegt im Westen, im Herzen des Ruhrgebiets. Von Gelsenkirchen sagen manche, es sehe heute so aus wie der Osten früher. Die Zechen geschlossen und Schalke 04 erbarmungslos in die Zweite Liga abgestiegen (auch wenn sie mittlerweile wieder aufgestiegen sind). Gelsenkirchen bedeutet Arbeitslosigkeit und Frust. Vom Kapitalismus umgepflügt und zurückgelassen. Sander fährt hin – und schaut hin. Voller Neugier und guter Laune, was beim Lesen durchaus ansteckend ist. Ab und zu streut er treffende essayistische Reminiszenzen ein.

Drei Monate, heißt es, habe er in Gelsenkirchen recherchiert. Dass ihn ausgerechnet die berühmte »Zonengabi« am Bahnhof empfängt – »Du kannst bei meiner Cousine wohnen«, hatte Schlüppi gesagt –, ist nur einer von vielen witzigen Einfällen. Die Frau, die im November 1989 auf dem Titelbild der »Titanic« eine geschälte Gurke als »Meine erste Banane!« präsentierte, heißt im Buch Gabriele Wolanski und ist inzwischen mit dem türkischen Kioskbesitzer Omer zusammen. In Gelsenkirchen, finden beide, gibt es auch schöne Ecken.

»Ich habe sieben Dönerbuden gezählt, vier Spielkasinos und mindestens fünf Trinkhallen, wie hier im Ruhrpott die Kioske heißen, die hier alle Büdchen nennen«, schreibt Sander, und es fühlt sich schon beinahe solidarisch an. Durch die ärmste Stadt Deutschlands geht er ohne Herablassung, schon gar nicht mit Häme. Er sucht Nähe und findet sie.

Es sind doch »die kleinen Leute«, egal ob West oder Ost, irgendwie fühlt er sich als einer von ihnen. »Im Garten gegenüber bläht sich müde eine Schalke-Fahne und eine deutsche Hausfrau mit Kopftuch kämpft vornübergebeugt gegen das Unkraut an. Vielleicht pflanzt sie aber auch welches.« Wie er beim Schreiben zwischen Nähe und Distanz, Zuneigung und Ironie, Melancholie und Gelächter balanciert, wie genau er Szenen zu beschreiben versteht (»in denen man fast spazieren gehen kann«, hieß es auf Deutschlandradio Kultur), das macht den Reiz dieses Buches aus.

So ist er auch dabei, als am 20. Juni 2020 vor der Bundeszentrale der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands eine etwa zwei Meter hohe Lenin-Statue enthüllt wird, die erste in Westdeutschland, wie die Partei verkündet. Gabi ist auch zugegen. Mit ihren 50 Jahren hat sie sich als Thälmannpionierin verkleidet, mit dunklem Rock, weißer Bluse und einem roten Tuch. Bei den »Partisanen vom Amur« wischt sie sich eine Träne aus den Augen. So wie es den Fußballfans geht, wenn sie von Schalke 04 erzählen. Es leben doch alle irgendwie in und mit ihren Erinnerungen. Manchmal tritt Gabi bei Vereinsfesten auf. »Da brauche ich nur die geschälte Gurke herausholen, bissel sächseln und sagen, dass meine Tochter Mandy heißt, dann liegen da alle vor Lachen auf dem Boden.«

Klischees – hier wie dort. »Und dass du nicht zu nett bist«, schreit Schlüppi ins Telefon. »Was genau willst du denn«, schreit Sander zurück, »verblühende Landschaften?« Ja, die sind hier zu sehen, auch wenn Abraumhalden zu begrünten Bergen geworden sind. Die Leute in Gelsenkirchen hätten Besseres verdient und machen sich ihr Leben trotzdem irgendwie schön – und sei es in einer der vielen Kneipen, die auch Sander aufsucht. Soll er ihnen übel nehmen, dass sie einfach nur weiter so wie in der alten Bundesrepublik leben wollen? »Der Westen scheint sich nicht vereinigt zu haben«, konstatiert er 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD. Bis heute steht der Osten konstant unter Anpassungsdruck. Dass Ömer nichts wissen will vom Leben jenseits der alten Grenze, darf man es ihm verdenken?

Das Lenin-Denkmal in Gelsenkirchen gibt es wirklich, doch die »Zonengabi« ist Sanders Erfindung. Jene Frau, die sich 1989 für 300 DM Honorar für die »Titanic« ablichten ließ, hieß in Wirklichkeit Dagmar und lebte damals schon in Worms. Vor dem Mauerfall habe sie mit ihren Eltern noch oft die DDR-Verwandtschaft besucht, aber vor den Grenzposten »so schreckliche Angst gehabt«, wie sie dem Reporter der »Süddeutschen Zeitung« gestand: »Weißt du, ich war ja seit der Wende nie mehr in Ostdeutschland.«

Gregor Sander: Lenin auf Schalke. Penguin,
186 S., geb., 20 €.

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