Guy Debord spuckt auf dich

Radikale Gesellschaftskritik oder Verschwörungstheorie: Was bleibt heute vom Situationismus? Anmerkungen anlässlich einer Übersetzung des »Konspirationistischen Manifests«

  • Ivan Dubois
  • Lesedauer: 7 Min.
Es tagt die "Situationistische Internationale": Guy Debord, 1959
Es tagt die "Situationistische Internationale": Guy Debord, 1959

Einst waren die Situationisten ehrbare Leute. Sie zogen durch die Cafés und Kneipen von Paris. Ließ man sich dabei ziellos schweifen, nannten sie das »dérive«. Sie rühmten sich der Entdeckung der »Psychogeografie«. Sie wollten Unordnung in die herrschende Ordnung bringen. Als dann der wilde Mai von 1968 kam, hatten sie ihre Maulwurfsarbeit getan. »Ne travaillez jamais« propagierten sie. Arbeiten? Niemals! Weil sie viel Zeit hatten, widmete sich die »Situationistische Internationale« nicht nur Fragen der modernen Kunst, sondern vor allem der Politik. Sie agitierten die Jugend. Die »Kinder von Marx und Coca-Cola« ließen sie wissen, dass Freizeit nicht das Gleiche wie Freiheit sei. Und dass man die armselige Existenz im Kapitalismus nicht mit dem wahren Leben verwechseln solle. Dann lieber revoltieren.

Aus dem heiteren Treiben der Situationisten entstanden einige nützliche Schriften wie »Das Handbuch der Lebenskunst für die jüngeren Generationen«, »Über das Elend im Studentenmilieu« und »Die Gesellschaft des Spektakels«. Nebenher spaltete man sich in schöner Regelmäßigkeit und schloss sich gegenseitig aus, weil für die Wahrheit nichts tödlicher ist als falsche Kompromisse. So lautete damals das Dogma in radikalen Kreisen. Am Ende blieb Guy Debord, der theoretische Kopf der »Situationistischen Internationale«, allein übrig und verfasste vor seinem selbst gesetzten Lebensende noch einige so klarsichtige wie melancholische Kommentare zum Zeitgeschehen. Außerdem rätselte er im Briefwechsel mit dem Arzt und Autor Michel Bounan über die wahren Ursprünge von Aids. Dies allerdings nicht mehr als Situationist, sondern unter eigenem Namen. Der Situationismus war beendigt, weste nur noch als das fort, was Debord spöttisch »Prosituationismus« nannte.

Heute ist nicht nur die herrschende Ordnung etwas durcheinandergeraten, die Opposition ist es auch. So wird der früher für »Taz« und »Junge Welt« tätige Anselm Lenz für das Sommerfest der rechten Zeitschrift »Sezession« Ende Juli als »Dramaturg und Situationist« angekündigt, für ein Podium mit Martin Lichtmesz und dem Fraktionschef der brandenburgischen AfD. Lichtmesz hat mit dem »Identitären« Martin Sellner soeben ein Buch über »Bevölkerungsaustausch und Great Reset« veröffentlicht. Welche Art von Situationismus Lenz, der öffentlichkeitsbedürftige Selbstdarsteller und Anführer des »Demokratischen Widerstands«, in Schnellroda zu betreiben gedenkt? Man darf gespannt sein. Die Kontakte dürften bereits älter sein, bereits im November 2020 plauderte Lenz mit Ellen Kositza, der Frau von Götz Kubitschek. Nur schmückte Lenz sich da noch nicht mit den fremden Federn des Situationismus.

Guy Debord ist jedenfalls nicht mehr da, »um auf diejenigen zu spucken, an die er verkauft wurde«. Oder die mit dem Situationismus hausieren gehen. So heißt es in dem »Konspirationistischen Manifest«, das Anfang des Jahres in Frankreich erschienen ist und geistesgeschichtlich in der Tradition der »Situationistischen Internationale« steht, gerade weil es keine Nachfolge reklamiert. Es kommt aus dem Umfeld des »Unsichtbaren Komitees«, das in den vergangenen Jahren mit »Der kommende Aufstand«, »An unsere Freunde« und »Jetzt« Schriften vorgelegt hat, die sowohl unter Linken als auch im Feuilleton für einigen Trubel sorgten. Nun wird das »Konspirationistische Manifest«, das in Wahrheit ein ausgewachsenes Buch über das biopolitische Regime ist, in einer deutschsprachigen Übersetzung verbreitet. Anonym und außerhalb des Buchmarkts, das ist für eine situationistische Schrift durchaus standesgemäß. Entweder bekommt man es durch Zufall oder Bekanntschaft in die Hand gedrückt oder man bestellt per Mail.

Der erste Satz des »Konspirationistischen Manifests« lässt dann auch erahnen, warum das Buch in Frankreich bereits für Furore sorgte und sich hierzulande bisher kein Verlag traute, es zu herauszubringen: »Wir sind Verschwörungstheoretiker, wie von nun an alle vernünftigen Menschen.« Die in Redaktionsstuben und linken Wohngemeinschaften bei solchen Worten einsetzende Schnappatmung dürfte einkalkuliert sein. Denn die pseudokritische Ablehnung von Verschwörungstheorien, so die These, ist selbst zum Ersatz für kritisches Denken geworden. Der Wirklichkeitsdiskurs wurde durch einen polizeilichen Diskurs ersetzt. Und überhaupt: Hegel, Marx, Nietzsche, Freud, Foucault und Adorno? Alles Verschwörungstheoretiker. Philip K. Dick, De Lillo, Pynchon und Roberto Bolaño? Die auch. Guy Debord? Ein Oberverschwörungstheoretiker.

Es ist in der Geschichte nichts Neues, dass ein Vorwurf zur Selbstbezeichnung gewendet wird, um aus der Defensive herauszukommen. Auf die Inflationierung des Vorwurfs folgt seine Affirmation, ein Nullsummenspiel – oder eine dialektische List? Aber auch eine Übersetzungsschwierigkeit, da das im Französischen ungebräuchliche Wort »Conspirationniste« weder das Wort Verschwörung noch das Wort Theorie beinhaltet und in der deutschen Übersetzung mit dem sperrigen Wort des Konspirationistischen übersetzt wurde. Lässt man solche Feinheiten der Nomenklatur einmal beiseite, geht es in dem »Manifest« um Folgendes: Der Ausnahmezustand, der im Frühjahr 2020 eintrat, ist ein neues Kapitel im Bürgerkrieg der Regierungen gegen die Bevölkerungen. »Es ist zweifellos die erste tödliche Epidemie, von deren Existenz die Leute überzeugt werden müssen«, heißt es. Folgt man dem »Manifest«, ist »überzeugen« ein sehr freundliches Wort für das, was dann folgt. Das kann man als disruptives Gesellschaftsmanagement beschreiben. Die Auswirkungen: Angst, Panik, Verwirrung, Abschottung.

Das »Manifest« verwendet viele Seiten und zahlreiche historische Ausführungen darauf, diese Auswirkungen als beabsichtigt zu beschreiben, ein lang angelegtes Szenario. Und das führt wieder in das Jahr 1968 zurück, das Schreckgespenst der unregierbaren Gesellschaft, welches die Situationisten und andere geweckt hatten. Die Regierungen taten, was sie tun mussten: Sie reagierten. Seitdem haben sie zahlreiche Mittel ersonnen, um ihre Macht zu erhalten und jede ernsthafte Opposition zu zermürben, zu zerstören und zu verwirren. Zum Beispiel indem man die ohnmächtigen Einzelnen bis zur Erschöpfung »nudgt«. »Nudging« meint das Anstoßen von Entscheidungen, eine Sozialtechnik, die sich auch mittels smarter Geräte und Apps immer weiter verbreitet. Manipulieren und eine freie Entscheidung simulieren, das muss beim »Nudgen« spielerisch ineinandergreifen. Und wenn das nicht reicht, gibt es noch immer die traditionellen Zwangsmittel.

Dem »Konspirationistischen Manifest« kann man alles vorwerfen, was bereits für »Der kommende Aufstand« galt. Zu wenig marxistisch, zu voluntaristisch, zu wenig Adorno, zu überspitzt, zu wenig Klassenanalyse, zu diffus, zu wenig auf die Linke zugehend, zu anarchistisch … Es teilt freilich auch die Vorzüge: Es enthüllt die Gesellschaft als lebensfeindlichen Zwangszusammenhang, den es nicht mehr konstruktiv zu verändern, sondern dem es nur noch zu entrinnen gilt. Und so bekommt man ein Bild der Wirklichkeit, das zwar sehr düster ist, aber über Herrschaft mehr zu sagen weiß, als dass sie von ominösen Strukturen ausgeht, die irgendwie nie etwas mit dem Handeln der Herrschenden zu tun haben.

Wie verschwörungstheoretisch das ist? »Was ist der Unterschied zwischen der Wahrheit und einer Verschwörungstheorie? – Acht bis neun Monate.« Diesen zynischen Witz, der dem »Manifest« zufolge in Kreisen der Weltgesundheitsorganisation kursieren soll, macht man sich zu eigen. Um dann aber hinzuzufügen, dass Verschwörungstheorien, so wahr sie sein mögen, nur dazu dienen, »unsere Ohnmacht zu bestätigen, unserer Passivität zu schmeicheln und uns davon zu entlasten, dass auch wir Geschichte machen müssen«.

Kürzlich hat sich auch ein alter Mitstreiter von Debord noch einmal zu Wort gemeldet. In einem Vorwort zur Neuauflage von »Das Buch der Lüste« schreibt der ehemalige Situationist Raoul Vaneigm: »Die Regierungen sahen in der Epidemie eine unverhoffte Gelegenheit, ihre überall wankende Autorität wiederherzustellen.« Mit großem Medienaufwand sei eine panische Hysterie verbreitet worden. Auch spricht Vaneigm in seinem Buch, erstmals 1979 in Frankreich veröffentlicht und fünf Jahre später in der Edition Nautilus in deutscher Übersetzung erschienen, von einer Verschwörung des Schuldgefühls und der Angst vor dem Genuss. Verschwörungen, wohin man schaut. Muss die radikale Gesellschaftskritik dort landen? Oder ist es nur der neueste Coup der Vereinnahmung, der Rekuperation, wie es die Situationisten nannten?

Mit über einem halben Jahrhundert Abstand zu den Ereignissen von 1968, einem halben Jahrhundert neoliberaler Konterrevolution und Domestizierung der Linken, stellt sich die Frage: Neigt der Situationsmus zum Verschwörungsdenken? Indem er sich als Gegenverschwörung zur herrschenden begreift, sieht es ganz danach aus. Doch ist das schon der halbe Weg nach Schnellroda? Dass es auch andere Abbiegungen gibt, müsste sich noch beweisen. Bis dahin spuckt Debord auf uns alle, die wir in einer Ordnung gefangen sind, die sich durch die eigens hervorgebrachten Katastrophen hinweg immer weiter am Leben erhält, obwohl sie innerlich längst abgestorben ist.

Raoul Vaneigem: Das Buch der Lüste. Edition AV, 148 S., br., 16 €.
Das »Konspirationistische Manifest« kann unter konspiration@protonmail.com zum Preis von 6 € bezogen werden.

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