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Wild gewordene Widerstandsrhetorik

Corona-Leugner wollen ab Samstag eine Woche lang in Berlin demonstrieren

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine Nummer kleiner geht es nicht, natürlich nicht. »Das Terrorregime wird weichen müssen, sich in einem Verfahren zu verantworten haben und seine Strafe bekommen. Die Woche der Demokratie ist der Anfang, denn das Blatt wendet sich«, heißt es in einem aktuellen Newsletter der verschwörungsideologischen Gruppe »Demokratischer Widerstand«. Seit gut zwei Wochen schickt die Gruppe nahezu täglich per E-Mail ihre Aufrufe herum, um bundesweit für ebenjene »Woche der Demokratie« in Berlin zu mobilisieren. Von diesem bis zum kommenden Samstag will man zusammen mit anderen Akteuren der Szene jeden Tag auf die Straßen der Hauptstadt gehen, um wahlweise gegen die »Corona-Lüge«, die »Mainstreammedien«, die einrichtungsbezogene Impfpflicht und »für die Aufklärung der Impfschäden« zu demonstrieren. Motto: »Weil Widerstand nie wichtiger war.«

Die rechtsoffenen selbsternannten Widerständler nehmen mit ihrer Protestwoche Bezug auf den Jahrestag der ersten bundesweiten Versammlung von »Querdenken« am 1. August 2020 in Berlin. Die Polizei sprach damals zunächst von rund 17.000 Teilnehmern, die Veranstalter sahen weit über eine Million Menschen – wo auch immer. Für die angekündigten verschwörungsideologischen Versammlungen der kommenden Tage kommt die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) zu der Einschätzung, dass trotz der großspurigen Töne »keine signifikante überregionale Mobilisierung festzustellen« sei. Man erwarte über einen »harten Kern« hinaus keinen »nennenswerten Zulauf«, sagt MBR-Mitarbeiter Mathias Wörsching zu »nd«.

Nach Angaben der Plattform »Berlin gegen Nazis« sind für das »Friedenscamp Berlin« an der John-Foster-Dulles-Allee in Tiergarten, das für die gesamte Woche angesetzt ist, zwar 200.000 Personen angemeldet. Ansonsten schwanken die Anmeldungen aber zwischen 300 und 10.000 Teilnehmern. Die Berliner Polizei teilt hierzu mit, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand »hinsichtlich der angezeigten Versammlungen nicht mit einem deutlichen Überschreiten der angemeldeten Teilnehmerzahlen zu rechnen« sei. Soll heißen: Die Riesenproteste könnten in Summe überschaubar ausfallen.

Auch der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Vasili Franco, geht nur von einem geringen Mobilisierungspotenzial aus. »An den Zulauf im Sommer und Herbst 2020 kann die Coronaleugner-Szene nicht mehr anknüpfen. Das erleben wir schon seit längerer Zeit«, sagt Franco zu »nd«.

Die offenkundige aktuelle Schwachbrüstigkeit der verschwörungsideologisch-rechtsoffenen Gruppen sei dabei aber keineswegs ein Grund, um Entwarnung zu geben. Zwar erlebe man »diese wild gewordene Aufstands- und Widerstandsrhetorik« schon seit Längerem, so MBR-Mitarbeiter Wörsching. »Das Gefährliche an ihr ist, dass sie die Leute nicht nur in Empörung hält, sondern auch den Boden bereitet dafür, dass Einzelne oder Kleingruppen zur Tat schreiten und gewalttätig werden, wie schockierende Mordtaten wie die in Idar-Oberstein gezeigt haben.« In der rheinland-pfälzischen Kleinstadt hatte ein Mann im September 2021 einen Tankstellenmitarbeiter nach einem Streit um einen Mund-Nasen-Schutz regelrecht hingerichtet.

Auch Grünen-Politiker Franco sieht die Szene, die hinter der Protestwoche steht, keineswegs entspannt: »Abgesehen davon, dass Berlin als bundesweiter Anziehungspunkt für diese Gruppen dient und wir tatsächlich einen regelrechten Schwurbler-Tourismus erleben, betrachte ich die Entwicklung auch generell mit Sorge.« Es möge sich derzeit nur um eine kleine Szene handeln. »Aber die ist mit Fakten und Argumenten nicht mehr zu erreichen. Den Menschen geht es ja nicht mehr um ein Thema, sondern um die Delegitimierung staatlichen Handelns, um den Kampf gegen ›das System‹. Und damit ist klar ein Gefahrenpotenzial verbunden.«

Die MBR schreibt in ihrer Einschätzung, dass schon seit Längerem der Versuch der Szene erkennbar sei, neue Themen jenseits des Kampfes gegen das inzwischen ohnehin verwässerte Infektionsschutzgesetz zu besetzen. So gehört nun zusätzlich der Krieg in der Ukraine zum Repertoire, verbunden mit den Themen Inflation und Preissteigerungen. Wörsching blickt dann auch schon über die aktuelle Protestwoche hinaus. »Diese Netzwerke sind dauerhaft in Aktion, betätigen sich dauerhaft im Rahmen kleiner Demonstrationen. Sie könnten in einer akuten Krisenlage mir nichts, dir nichts wieder weitaus mehr Menschen anziehen«, sagt er. Wie sich auch im Rahmen der sogenannten Corona-Proteste gezeigt habe, könne sich der entsprechende »Resonanzraum sprunghaft vergrößern, sobald es eine krisenhafte Situation gibt – und das müssen wir im Herbst erneut befürchten«.

Wörsching verweist darauf, dass die Meinungsführer der extremen Rechten und des verschwörungsideologischen Spektrums mit Blick auf »eine Großmobilisierung« ab September insbesondere in Sachsen oder Thüringen »in den Startlöchern« stünden. »In Berlin stellt sich die Lage noch einmal etwas anders dar. Anders als in Teilen Ostdeutschlands gibt es in Berlin starke demokratische und antifaschistische Gegenkräfte«, sagt er. Auch zu den Veranstaltungen der »Woche der Demokratie« sind zahlreiche Gegenproteste angekündigt, organisiert unter anderem von den Omas gegen Rechts Berlin und dem Kollektiv »Geradedenken«.

Die Polizei gibt sich derweil verhältnismäßig gelassen. »Das Gefährdungspotenzial wird seitens der Polizei Berlin fortlaufend betrachtet. Die Erkenntnisse zur ›Woche der Demokratie‹ werden in die Bewertung etwaiger Geschehnisse im Herbst einfließen«, heißt es auf nd-Anfrage. Eine Konsequenz hat die Polizei indes schon jetzt aus den Mobilisierungsaufrufen zur Protestwoche gezogen. So war hier seitens des »Demokratischen Widerstands« auch die Rede von »den derzeit noch auf freiem Fuß befindlichen Neofaschisten (noch nicht verurteilten, daher ›mutmaßlichen‹) Schwerstverbrechern Barbara Slowik und Andreas Geisel«, der Polizeipräsidentin und dem vormaligen SPD-Innensenator also.

Wie die Polizei mitteilt, ist gegen den Verfasser des Pamphlets ein Strafermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung von Personen des politischen Lebens eingeleitet worden. Ob hier ein möglicher Verstoß gegen den entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches vorliegt, werde geprüft. Der Fall sei dem Polizeilichen Staatsschutz des Landeskriminalamtes zur Bearbeitung übergeben worden.

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