Szenarien mit oder ohne EU

Viktor Orbán beschleunigt Ungarns Abkehr vom Westen

  • Edmond Jäger
  • Lesedauer: 4 Min.
Orbáns ungemischte Traumwelt
Orbáns ungemischte Traumwelt

Wir wollen nicht gemischtrassig sein.» Was klingt wie aus einem internen Chat der AfD oder wie ein Satz, der auf der Bühne eines Rechtsrockkonzerts gegrölt wird, stammt von keinem geringeren als dem dienstältesten Regierungschef der EU: dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Die Worte wählte er in einer Rede, die er während der Sommerakademie seiner Partei in Băile Tușnad in Rumänien hielt. Das Publikum bildeten Angehörige der ungarischen Minderheit Rumäniens, mit deren Parteien und Organisationen die ungarische Regierungspartei Fidesz eng kooperiert. Unter ihnen ist Orbán, anders als im Budapester Parlament, nur von Gleichgesinnten umgeben. Daher ist der Kurort Schauplatz von Orbáns jährlichen Grundsatzreden.

Diesmal holte der Politiker weit aus, stellte Geschichte und Zukunft als eine Art Kampf ums Dasein der Völker und «Rassen» dar, wie man dies von Vertretern der extremen Rechten kennt. Westeuropa sei «gemischtrassig», habe sich von den Werten des «Westens» verabschiedet und bilde nur noch einen «Post-Westen». Ungarn sei dazu das Gegenmodell, das die Rolle der Verkörperung der westlichen Werte übernommen habe und nicht «gemischtrassig» werden wolle. Es werde die Zeit kommen, so prophezeite Orbán, in der man auch die Grenze zum Westen verteidigen müsse, nicht mehr nur die nach Süden, womit er auf den bestehenden Grenzzaun zu Serbien anspielte.

Von der Opposition und von westlichen Regierungen kam Kritik, wie zum Beispiel vom US-amerikanischen Botschafter in Budapest und dem stellvertretenden Kommissionspräsidenten der EU, Frans Timmermanns. Doch zu denjenigen, die Orbán ohnehin nicht wohlgesonnen sind, gesellten sich neue Kritiker hinzu. Eine der ältesten Beraterinnen des Ministerpräsidenten, Zsuzsa Hegedüs, kündigte die Zusammenarbeit in einem offenen Brief, in dem sie Orbán «Nazisprache» vorwarf. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden in Ungarn, András Heisler, bat den Regierungschef öffentlich um ein klärendes Gespräch.

Viel mildere Töne hörten die Zuhörer dagegen, als es um Russland ging. Den russischen Angriff auf die Ukraine rechtfertigte Orbán zwar nicht, doch sein Verständnis für die russische Führung ist ganz offensichtlich größer als das für westliche Politiker und deren Sanktionen, die nur der Wirtschaft schadeten. Im Übrigen gehe Ungarn der Krieg «zweier slawischer Völker» nichts an und daher werde man sich heraushalten.

Vor allem aber predigte Orbán eine Art nationaler Autonomie gegen die Unwägbarkeiten der Globalisierung und der internationalen Politik. Das Militär werde aufgerüstet und die ungarische Wirtschaft ohnehin so erstarken, dass Ungarn 2030 Nettozahler in der EU werde. Die Zuhörer konnten sich somit fragen, ob Ungarn ohne EU und Nato dann nicht besser dran wäre. Doch was bezweckt Orbán? Will er wirklich aus EU und Nato austreten? Aus dem Verhalten und den Narrativen kann man eher schließen, dass die ungarische Regierung sowohl den Verbleib in als auch den Austritt aus der EU als mögliches Szenario vorbereitet.

Um Ungarns Unabhängigkeit vom Westen zu vergrößern, pflegt Fidesz seit 2010 eine besondere Nähe zu Russland. Neben der ideologischen Feindschaft gegenüber dem Westen verbindet beide Regierungen eine enge Zusammenarbeit in Energiefragen, die durch den Krieg nicht beeinträchtigt werden soll. Zum einen baut Ungarn sein Atomkraftwerk in Paks mit russischen Reaktoren aus. Zum anderen hat der ungarische Außenminister Péter Szijjártó auf seiner Reise nach Moskau vergangene Woche einen neuen Vertrag über eine größere Liefermenge Gas abgeschlossen – was seit dem russischen Angriff noch kein Land der EU getan hat. Den Gassparplan der EU hat Ungarn dagegen als einziges Land abgelehnt, wurde aber von den anderen Mitgliedsstaaten überstimmt. Währenddessen schwelt der Konflikt zwischen der Europäischen Kommission und Ungarn um die mangelnde Rechtsstaatlichkeit weiter, weswegen die für das Land bestimmten EU-Gelder eingefroren sind. Diese machen etwa zehn Prozent des ungarischen Staatshaushalts aus, finanzieren praktisch alle Infrastrukturmaßnahmen des Staats und sind daher sowohl für zahllose Handwerker als auch für die Bereicherung von Orbáns Familie unerlässlich. Würde die EU Ungarn dauerhaft die Rechtsstaatlichkeit absprechen und die Gelder sperren, fiele für Ungarn der wichtigste Grund weg, in der EU zu bleiben.

Andererseits deuten Artikel der regierungsnahen Zeitung «Magyar Nemzet» auf ein anderes mögliches Szenario hin. Die postfaschistische Politikerin Giorgia Meloni, die sich Chancen ausrechnet, im Herbst italienische Ministerpräsidentin zu werden, wird von den regierungsnahen Journalisten als Bewunderin und zukünftige Verbündete Orbáns präsentiert. Der setzt seine Hoffnungen auf rechtsradikale Politiker. Dieses Jahr finanzierte die Bank MKB, die zum Teil dem ungarischen Staat und zum Teil dem Unternehmer Lőrincz Mészáros gehört, der mutmaßlich auch Orbáns Privatvermögen verwaltet, den Wahlkampf der rechtspopulistischen französischen Präsidentschaftskandidatin Le Pen. Mit Hilfe der radikalen Rechten könnte Orbán also an einem Rechtsrutsch in der EU mitwirken, der neben Polen und Ungarn sehr bald Italien und später Frankreich umfassen könnte und einen Verbleib Ungarns für Fidesz attraktiver erscheinen lassen würde.

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