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Monumentale Heldenverehrung

Der Nationalfriedhof Arlington ist letzte Ruhestätte für mehr als 420 000 US-Bürger, überwiegend Veteranen und in Kriegen Getötete

  • Michael Marek und Anja Steinbuch
  • Lesedauer: 8 Min.
Einst wurden auf dem Friedhof Arlington die Toten des Bürgerkriegs beigesetzt, oft nur hastig verscharrt. Heute werden die Grabstätten Veteranen und ihren Familien nur nach einem aufwändigen Antragsverfahren zugewiesen.
Einst wurden auf dem Friedhof Arlington die Toten des Bürgerkriegs beigesetzt, oft nur hastig verscharrt. Heute werden die Grabstätten Veteranen und ihren Familien nur nach einem aufwändigen Antragsverfahren zugewiesen.

Es ist schwül und heiß. In Arlington, einem der größten Nationalfriedhöfe bei Washington DC, drücken nicht nur die hohen Temperaturen aufs Gemüt. Überall ermahnen Schilder die Besucher, leise zu sein. Aus Ehrfurcht vor den Toten.

Vor dem Grab des unbekannten Soldaten wartet eine Gruppe Jugendlicher mit ihrem Lehrer. Dann ertönt ein Trompetensignal. Die traurig-verlorene Melodie wurde schon während des US-amerikanischen Bürgerkrieges gespielt. Sie verliert sich in der Stille über dem Friedhof, und die Wachablösung kann beginnen. Sie ist nach der pandemiebedingten Schließung des Friedhofs wieder der Höhepunkt bei den täglichen Trauerzeremonien.

Alle haben ihre Smartphones gezückt. Ein Metallgeländer mit hölzernem Handlauf hält die Zuschauer auf Distanz. Dahinter: drei Soldaten*innen in dunkelblau-schwarzen Ausgehuniformen, mit dunklen Sonnenbrillen und M14-Gewehren. »Changing of the Guards« – die Wachablösung vor dem 50 Tonnen schweren weißen Grabmal des unbekannten Soldaten.

Mit strengem Gesichtsausdruck und unnatürlich eckigen Bewegungen überprüft der wachhabende Soldat Ausrüstung und Uniform seines Gegenübers. Dann kommt die Ablösung: Der Soldat schreitet langsam auf einer dunklen Spur über den hellen, quaderförmig gelegten Granit: Es ist der Abrieb der blitzblanken schwarzen Schuhe – seiner eigenen und der vieler Kamerad*innen, der sich in den Stein gefressen hat.

Der Wachwechsel folgt immer der gleichen, martialisch anmutenden Choreografie: 21 Schritte in die eine Richtung, 21 Sekunden Pause, dann 21 Schritte in die andere Richtung. Die 21 Schritte sind dabei eine Anspielung auf die 21 Salutschüsse, die höchste Ehre, die es beim US-Militär gibt. Seit Jahrzehnten marschieren die Wachsoldaten*innen auf und ab – täglich im Halbstundentakt –, und haben längst eine imaginäre Erdumrundung hinter sich.

Arlington ist zwar nur einer von 171 Nationalfriedhöfen der Vereinigten Staaten. Aber er ist zu einem Wahrzeichen geworden: ein Touristen- und Patriotenmagnet mit Blick auf Pentagon, Capitol und Weißes Haus. Der zweitgrößte Friedhof der USA mit seinen über 420 000 Gräbern liegt unmittelbar an der Grenze zwischen dem Bundesstaat Virginia und der Hauptstadt Washington DC, die durch den Potomac River getrennt sind. Mit rund 250 Hektar Fläche ist der Totenacker so groß wie 353 Fußballfelder; ein riesiges parkähnliches Gelände mit gepflegtem Rasen, altem Baumbestand, Hügeln und Bächen.

Doch Arlington steht nicht nur für Idylle, sondern auch für die Bürokratisierung des Todes: Nicht jeder darf hier bestattet werden. Man muss gedient und das Recht auf eine Militärrente haben. Träger des Verwundetenabzeichens oder der Tapferkeitsmedaille erhalten auch ein Begräbnis, ebenso Familienmitglieder von Militärs.

Ein Hauch Disneyland

Vier Millionen Besucher kamen bis zur Coronakrise jedes Jahr auf den Friedhof. Damit gehöre er zu den Attraktionen von Washington DC, bekräftigt Cara O’Donnell. Die Mittvierzigerin arbeitet für den Bundesstaat Virginia, der die Anlage betreibt. Die allermeisten seien US-Amerikaner, ansonsten kämen Touristen aus der ganzen Welt. Soldaten aller US-Teilstreitkräfte können sich für den Wachdienst bewerben. Durchschnittlich 18 Monate leisten die handverlesenen Freiwilligen ihren Dienst ab. Erst seit 1994 sind auch Frauen darunter.

Wie bei allen Sehenswürdigkeiten in den USA gibt es auch hier eine Prise Disneyland: Eine Armada weißer, elektrisch betriebener Sightseeing-Bimmelbahnen karrt Tourist*innen über das Gelände. Auch wir fahren mit, entlang endloser Reihen schlichter weißer Grabsteine auf grünem Rasen. Zwischendurch: opulent gestaltete Mahnmale. Zum Beispiel für die Terroropfer von Lockerbie, gebaut aus schottischen Sandsteinen, oder für die Astronauten gescheiterter Weltraummissionen wie Apollo 1, die Besatzungen der Challenger- und Columbia-Space-Shuttles.

Dagegen sind die Tausenden standardisierten Grabsteine selbst ein Monument: Das Schicksal des Einzelnen tritt zurück hinter der Gesamtheit der »Gefallenen«. Nur wenige Gräber tragen individuelle Züge. Allerdings: keine Regel ohne Ausnahme! Es gibt baulich hervorgehobene Grabsteine, die die Spannung zwischen dem Gleichheits- und Führerprinzip plastisch zum Ausdruck bringen.

Überraschend: Nur zwei US-Präsidenten sind in Arlington bestattet: Howard Taft und John F. Kennedy. Das Grab des 1963 im Alter von nur 45 Jahren ermordeten beliebten Politikers der Demokratischen Partei ist zu einer Pilgerstätte geworden. Um dorthin zu kommen, müssen die Besucher einen kleinen Hügel hinauf steigen. Die beiden Grabplatten des 35. US-Präsidenten und seiner Frau Jaqueline Kennedy Onassis sind identisch und schlicht im Boden eingelassen. Ein dünnes Seil hält die Besucher davon ab, darauf zu treten. In der Mitte des Grabes: eine ewige Flamme, die von einer unterirdischen Gasleitung gespeist wird.

Von hier blickt man auf eine friedliche Landschaft mit bunten Laubbäumen, Wiesen, kleinen Hügeln. Der Nationalfriedhof von Arlington wurde als Landschaftspark entworfen, als Ort für vom Dienstgrad unabhängige Bestattungen für Angehörige der US-Armee und stiller Trauer und weniger als Gedenkort im Monumentalstil.

Idylle, wohin man blickt also. Doch draußen dagegen tobte und tobt der Krieg. Am 15. Juni 1864, mitten im Bürgerkrieg, ließ Montgomery C. Meigs, General der Truppen der Nordstaaten, den Soldatenfriedhof einrichten – einfach, weil die Zahl der Toten unüberschaubar war. Zehntausende waren gefallen, die man nicht auf den Schlachtfeldern zurücklassen konnte.

In Arlington beigesetzt zu werden, war damals weniger eine Frage der nationalen Ehre, sondern eher einer schlichten Notwendigkeit geschuldet: Mehr als 600 000 Soldaten starben während des blutigen Sezessionskrieges. An manchen Stellen ragten Arme und Beine und gelegentlich auch Köpfe der hastig verscharrten Toten aus dem Boden heraus, berichtete damals ein Augenzeuge. Das Gräberfeld von Arlington war die Lösung für ein akutes logistisches wie ethisches Problem.

Ironie der Geschichte: Das herrschaftliche Anwesen samt Park am Ufer des Potomac gehörte der Familie des Südstaaten-Generals Robert Lee und wurde von Nordstaaten-Präsident Abraham Lincoln konfisziert. Begraben wurden zunächst nur gefallene Nordstaatler, nicht aber Konföderierte. Deren Tote mussten draußen bleiben.

Überhaupt spiegelt der Nationalfriedhof die geltende Gesellschaftsordnung wider: Bei seiner Gründung inmitten des Sezessionskrieges wurden in Extrasektionen die schwarzen Soldaten bestattet. Heute gibt es 70 verschiedene Bereiche in Arlington: einen für die Toten der Kriege im Irak und Afghanistan, einen für Frauen in der Armee, für Krankenschwestern – und einen für 3800 ehemalige Sklaven in den Reihen der Army.

Weitere Kriege brachten viele neue Tote und damit Gräber in Arlington. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann es eng zu werden. Deshalb legte US-Präsident Harry S. Truman 1948 fest, dass nur noch einen Meter hohe, rechteckige weiße Marmorgrabsteine – am Kopf mit einem Rundbogen versehen – für alle verwendet werden, egal ob General oder Infanterist.

Zumindest im Tod sind hier seither alle gleich. Unzählige Glaubensgemeinschaften sind auf dem Friedhof vertreten. 70 religiöse Symbole auf den Einheitsgrabsteinen erlaubt das US-Militär, darunter Embleme für Atheisten, Buddhisten, Christen, Muslime, Zoroastrier. Sogar Thors Hammer für das germanisch angehauchte Neuheidentum darf den Grabstein zieren. Schnittblumen sind erlaubt, Topfpflanzen nicht. Ansonsten ist es verboten, die Grabsteine zu schmücken. Trotzdem werden immer wieder Fotos oder kleine persönliche Gegenstände der Verstorbenen angebracht.

Protestierende Veteranen

Ausgerechnet am Veterans Day, dem 11. November, wenn jedes Grab in Arlington mit einem Sternenbanner versehen wird, melden sich Ärzte und Veteranenverbände regelmäßig zu Wort: Denn laut einer Studie von 2018 haben Suizide unter Soldaten*innen um 32 Prozent zugenommen. Jeder fünfte von einem Kriegseinsatz Zurückkehrende leide an posttraumatischen Belastungsstörungen. 1967 protestierten gar Tausende Menschen zwischen den Gräberreihen gegen monumentale Heldenverehrung und den US-Vernichtungskrieg in Vietnam.

In diesen Tagen ist die bis dato oft sehr schlechte Versorgung der Kriegsversehrten ein Thema, das das Land bewegt. Am Mittwoch unterzeichnete US-Präsident Joe Biden ein Gesetz zur besseren Gesundheitsversorgung von Veteranen, die in Einsätzen Giftstoffen ausgesetzt waren und deshalb an Atemwegserkrankungen oder Krebs leiden.

Der »Pact Act of 2022« war ausgerechnet von den Republikanern blockiert worden. Aktive der Veteranenverbände demonstrierten deshalb Anfang Auguts vor dem Weißen Haus für die schnelle Verabschiedung und Inkraftsetzung des Regelwerks. Während der Kriege im Irak und in Afghanistan entsorgte das Militär seine Abfälle häufig durch Verbrennung unter freiem Himmel. Schätzungsweise 3,5 Millionen US-Veteranen, also etwa jeder Fünfte, waren Kontaminanten und gefährlichen Schadstoffen ausgesetzt. Dennoch wurden die allermeisten Anträge auf Invalidität in diesem Zusammenhang bislang abgelehnt. Der Pact Act soll dies ändern. Biden hatte das Gesetz zu Beginn seiner Amtszeit als wichtiges Ziel benannt. Auch sein Sohn Beau Biden war an Krebs verstorben, der Präsident hatte zum Ausdruck gebracht, dass er an eine Verbindung zwischen dessen Militärdienst und der Erkrankung sieht.

Vor einigen Jahren erschütterte ein Skandal den Heldenfriedhof. Sterbliche Überreste waren verloren gegangen oder wurden in falschen Gräbern bestattet. Ein Albtraum für die Verantwortlichen und Angehörigen: ein christlicher Leichnam, der unter dem Grabstein eines Atheisten ruht. »Wir hatten keine geodatengestützte Kartierung der Gräber«, erklärt uns die Pressesprecherin. »Das war ein riesiges Problem. Jetzt haben wir sie und können wir jedes einzelne Grab genau zuordnen.«

Arlington ist sowohl Nationalheiligtum als auch ein ganz normaler Friedhof: Jeden Werktag gibt es im Schnitt 30 Beerdigungen. In den allermeisten Fällen werden Veteranen oder die Gefallenen der Kriege im Irak und in Afghanistan sowie deren Familienangehörige zu Grabe getragen.

Ob auch die Besucher in Arlington den Kampf gegen »das Böse« in der Welt als die ureigene Pflicht der Vereinigten Staaten ansehen und Soldaten für die Helden der Nation halten? Um 17 Uhr schließen die Tore des Friedhofs, und alle Besucher strömen in Richtung Ausgang. Die weißen Grabsteine werfen inzwischen lange Schatten. Das Gemurmel ist lauter geworden. Nicht nur wir sind wohl erleichtert, die endlosen Reihen von Grabsteinen hinter uns lassen zu können.

Mehr Informationen: arlingtoncemetery.mil
Touren buchen: arlingtontours.com

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