Teilhabe, aber nicht für alle

Kunst und Kollektiv (6): Derzeit wird viel über kollektive Kunstproduktion diskutiert, doch wie verhält es sich mit der anderen Seite, der Wahrnehmung von Kunst?

  • Robin Becker
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Künstler Félix González-Torres konzipierte Installationen aus Glückskeksen zum Verzehr. Kann man das progressiv nennen?
Der Künstler Félix González-Torres konzipierte Installationen aus Glückskeksen zum Verzehr. Kann man das progressiv nennen?

Formen und Praxen kollektiver Kunst sind keineswegs neu, sondern wesentlich älter, als es die gegenwärtigen Debatten über das Verhältnis von Kunst und Kollektivität suggerieren mögen. Künstlerkollektive wie Ruangrupa (das die Leitung der diesjährigen Ausgabe der Documenta übernahm) stehen in der Tradition der historischen Avantgarden. Mit ihnen teilen sie den Anspruch einer »Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis«, wie es der Kunsttheoretiker Peter Bürger 1974 in seiner »Theorie der Avantgarde« formulierte. Bürger notierte darin, dass sich die avantgardistisch intendierte Aufhebung der autonomen Kunst weniger durch eine Negation früherer Stile oder Gehalte vollziehe als vielmehr durch eine Negation des Funktionszusammenhangs der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft.

Werden jene Debatten über Kunst und Kollektivität aber vornehmlich mit Blick auf die Kunstproduktion geführt, wird vernachlässigt, dass die historischen Avantgarden auch die individuelle Rezeption von Kunst abschaffen wollten. Denn Letztere entsteht, wie Bürger historisch dargelegt hat, erst mit der bürgerlichen Kunst.

Anders als die sakrale oder höfische, deren Rezeption (das heißt verstehende Aufnahme) kollektiv organisiert und institutionalisiert war, verlangt die bürgerliche Kunst eine Rezeption, die sich von der Lebenspraxis des rezipierenden Individuums abhebt. Als Ideal ästhetischer Erfahrung gilt in der bürgerlichen Gesellschaft die einsame Versenkung des Individuums in das Kunstwerk (also zum Beispiel die des Betrachters in ein Gemälde). Das Kunstwerk ist zwar sozialen Zusammenhängen entrückt, spiegelt der wahrnehmenden Person aber doch deren eigenes Selbstverständnis sowie die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft wider.

Die Idee von Kollektivität, wie sie auf der diesjährigen Documenta von künstlerischer und kuratorischer Seite beabsichtigt wird, sollte daher nicht nur aus produktionsästhetischer Sicht reflektiert werden, wie es in den gegenwärtigen Debatten geschieht, sondern auch aus rezeptionsästhetischer. Dass im Zusammenhang mit Kollektiven wie Ruangrupa die Autonomie der Kunst gegen die gesellschaftliche Wirksamkeit derselben in Stellung gebracht wird, scheint zumindest teilweise anachronistisch. Denn der Angriff auf die Idee bürgerlicher oder westlicher Kunstfreiheit ist keiner, der als Sonderfall nur außerhalb der westlichen Kunstgeschichte stattfindet: Die antibürgerlichen und kollektiven Tendenzen sind ihr durch die künstlerischen Avantgarden im 20. Jahrhundert eingeschrieben. Und auch die bürgerliche Vorstellung einer ästhetischen Erfahrung, die sich entgegen der sozialen Unfreiheit des bürgerlichen Individuums in Form individueller Freiheit zu den Kunstwerken verhalten sollte, ist schließlich im 20. Jahrhundert bereits Gegenstand künstlerischer Kritik und theoretischer Reflexion gewesen.

Als vielleicht prominentester Versuch innerhalb der Kunsttheorie, die Kunst auf Formen kollektiver Rezeptionsweisen zu verpflichten, dürfte die relationale Ästhetik des französischen Kunstkritikers und Kurators Nicolas Bourriaud gelten, der diese in den 90er Jahren formulierte. Bourriaud war davon überzeugt, dass sich die Modernität der Kunst nicht auf eine rationalistische Teleologie und einen politischen Messianismus reduzieren lasse. In seiner expliziten Absage an die Autonomie der Kunst und einen historisch-gesellschaftlichen Fortschritt dienen für ihn Kunstwerke nicht länger dem Zweck, imaginäre und utopische Realitäten zu erschaffen. Stattdessen sollen sie Möglichkeiten und Modelle des Lebens sowie der Praxis innerhalb des Bestehenden entwerfen. Diese sollen die Menschen dazu befähigen, »die Welt auf bessere Weise zu bewohnen«.

Dementsprechend solle die Kunst Bourriaud zufolge nicht mehr die gesellschaftliche Praxis hinterfragen, sondern unmittelbar selbst Formen von Gemeinschaft stiften, die standardisierten Verhaltensweisen und warenförmigen sozialen Beziehungen in der kapitalistischen Ökonomie entgegengesetzt sind. Und statt Utopien sozialer Praxis aufscheinen zu lassen, solle die Kunst als »engelsgleiches Programm« Formen »alltäglicher Mikro-Utopien« realisieren und Möglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion im Hier und Jetzt bieten.

Der avantgardistische Anspruch, Kunst in Leben zu überführen, verwirklicht sich bei Bourriaud darin, dass die Rezipientinnen und Rezipienten im Ausstellungskontext selbst zu sozialen Akteuren werden sollen. Die individuelle ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks opfert er zugunsten einer unmittelbar erfahrbaren Situation; die Reflexion auf die politische Dimension eines Werkes zugunsten dessen unmittelbar politischer Intervention, der Herstellung einer – tendenziell autoritären – Form kollektiver Teilhabe.

Die Kritik an Bourriauds relationaler Ästhetik zielte auf diese Problematik ab. Ihr zufolge ließen sich die Arbeiten von Künstlern wie Félix González-Torres oder Rirkrit Tiranvanija, die Bourriaud als Ausweis relationaler Kunst dienen (Tiranvanija kochte in den frühen 90er Jahren in einer Ausstellung thailändische Gerichte, die er den Besucherinnen und Besuchern servierte; González-Torres’ Installationen bestanden beispielsweise aus Bonbons oder Glückskeksen, die verzehrt werden konnten), weniger als Produktion der Möglichkeit von gemeinschaftlicher Partizipation verstehen, sondern vielmehr als Reflexion und Kritik von gesellschaftlicher Teilhabe, innerhalb wie außerhalb der Kunstwelt.

Ferner kann man gegen Bourriaud argumentieren, dass die Konstruktion von Gemeinschaft im Ausstellungskontext immer nur temporäre und situierte Formen hervorbringen kann. Sie genießt dabei unweigerlich die Privilegien der Kunstwelt sowie die ihrer Betrachterinnen und Betrachter, die sie eigentlich überwinden möchte. Dass Bourriaud diese sozialen Bedingungen kaum reflektiert und so auch ignoriert, dass die außerästhetischen Formen von Gemeinschaft grundverschieden sind von denen, die ein Kunstwerk konstruiert, korrespondiert mit seiner bloßen Forderung nach Partizipation, die politisch deshalb höchst indifferent bleibt, weil sie allein noch nichts über die spezifische Ausformung dieser Partizipation verrät.

Bourriauds relationale Ästhetik fällt also in vielerlei Hinsicht hinter seine eigenen Intentionen zurück. Und doch scheint sie heutzutage an Attraktivität kaum verloren zu haben, wenn etwa Ruangrupa auf der Documenta mit dem Konzept des »Lumbung«, dem indonesischen Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, die Herstellung einer Gemeinschaft verfolgt, die durch einen kollektiven Prozess innerhalb der Ausstellung entstehen soll. Dadurch wird eine gesellschaftliche Praxis ästhetisiert und der politische Kontext, aus dem sie stammt, gleichsam entpolitisiert. Und es zeigt sich bei solchen Versuchen oft, wie sehr der Anspruch, die Distanz zwischen künstlerischer Arbeit und rezipierendem Subjekt einzuziehen, das Gegenteil hervorbringt: Denn jene Formen ästhetischer Praxis, die auf eine kollektive Partizipation zielen, wirken nicht selten seltsam unbelebt, wenn die Besucherinnen und Besucher dazu eingeladen sind, sich zu beteiligen. Dazu scheint es, als trete die Autonomie der Kunst ungewollt gerade dort drastisch hervor, wo sie eigentlich negiert werden soll – ein Schicksal, das eben auch schon Teile der historischen Avantgarden ereilte.

Misslingt so die Idee einer kollektiven Rezeption von Kunst, ließe sie sich vielleicht als subtile und der Kunst notwendig innewohnende Form retten. Denn nicht nur sind ihre Sprachen, Formen und Gehalte kollektiven Ursprungs, sie adressiert auch in den vermeintlich noch so partikularistischen Ausprägungen der Gegenwartskunst ein ästhetisches Wir, dessen sie gerade in ihren dezidiert politischen Ansprüchen bedarf. In diesem tendenziell universalistischen Moment zielt sie jedoch eigentlich auf die Überwindung jeglicher Form von Kollektivität.

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