Hybris und Hysterie

Zum heutigen Weltfriedenstag: Stefan Bollinger über den Ukraine-Krieg, deutsche Verantwortung und Kriegsrhetorik

  • Lothar Schröter
  • Lesedauer: 5 Min.
Kolchosbäuerinnen lauschen der Rede von Außenminister Molotow zum deutschen Überfall auf die UdSSR 1941.
Kolchosbäuerinnen lauschen der Rede von Außenminister Molotow zum deutschen Überfall auf die UdSSR 1941.

Der Krieg in der Ukraine ist für seröse Gesellschaftswissenschaftler, Politiker und Journalisten, die sich bisher mit noch unverstelltem Blick links verorteten, eine Herausforderung ersten Ranges. Wenn sie nicht kaum revidierbare Urteile mehr oder minder aus dem Bauch herausfällen. Dies trifft leider auch auf etliche Historiker zu. Jedoch nicht auf den Autor des hier vorzustellenden Buches.

Anders als sein Titel vermuten lässt, steht der aktuelle Krieg um und in der Ukraine jedoch nicht im Mittelpunkt. Stefan Bollinger versucht sich an einer knappen Reminiszenz der deutsch-russisch-sowjetischen Beziehungen, um von diesem historischen Rückblick aus den Standort des regierungsoffiziellen Deutschlands zu bestimmen, aber auch jenen unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Akteure in der Bundesrepublik bis hin zu DEN LINKEN, zu Russland und zur Ukraine zu deuten und zu erklären. Was nicht billigen meint. Ohne es so auszudrücken, lässt Bollinger wissen, dass er eine Ursache für vorschnelle Pauschalurteile in einem allgemeinen krassen Mangel an politischer Bildung sieht, die selbst viele Linke zu schlimmen Irrtümern verleitet. Auch der Rezensent musste erst lernen, dass nun, nach einer neu herangewachsenen Generation, Wahrheiten, die allen Stürmen der Zeit zum Trotz Wahrheiten bleiben, immer wieder neu erlernt werden müssen. Aber eben auf einem soliden Fundament politisch-historischer Kenntnisse. Und eben daran mangelt es immer mehr.

Der Autor lässt keinen Zweifel an seiner wissenschaftlich begründeten Grundauffassung zum Krieg in der Ukraine. Ausgehend davon, dass Russland nicht mehr bereit ist, »sich politisch in die Schranken weisen und sich militärisch bedrohen zu lassen« und die Kiewer Zentralregierung mit Strafexpeditionen 2014 einen Bürgerkrieg im Osten des Landes entfesselt hat, schreibt er, vielleicht etwas sehr lakonisch: »In diesen Bürgerkrieg hat Russland im Februar 2022 offen und besitzstandserweiternd eingegriffen.« Um dann jedoch tief und ernthaft in die Historie einzutauchen. Eine hochpräzise Ratgeberin, die viel zu oft ignoriert wird – auch im Fall des Ukraine-Krieges.

Konsequent beginnt Bollinger mit dem »mörderischer Überfall 1941: die ewige Zäsur«. Niemand sollte das mit diesem Datum des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion verbundene Trauma in Russland, aber auch anderswo, unterschätzen. Am Ende hatten die Völker der UdSSR 27 Millionen Kriegstote, ungezählte Millionen von Kriegsversehrten, Witwen und Waisen sowie ein kriegszerstörtes Land zu beklagen. Nie mehr zuzulassen, dass sich ein 22. Juni 1941 wiederholt, ist Staatsdoktrin in Russland, betont Bollinger. Wahr ist aber auch: Die Wehrmacht wäre nie bis kurz vor Moskau vorgedrungen, das Land hätte Millionen von Opfern weniger betrauern müssen, hätte die Rote Armee mit ihren grenznahen Artillerie- und Fliegergruppierungen die Aufmarschräume der Wehrmacht rechtzeitig massiv angegriffen. Diese Überlegungen begleiteten wohl maßgeblich die Entscheidung Putins und seiner Entourage zur Invasion in die Ukraine. Was keine Entschuldigung sein soll. Doch: Gab es nicht wirklich Pläne in Kiew zum militärischen Einmarsch in die Gebiete Lugansk und Donezk mit einer von der Nato hochgerüsteten 200 000-Mann-Armee, der im März dieses Jahres erfolgen sollte?

Bollinger macht daran auch seine Antwort auf die von Kanzler Olaf Scholz verkündete »Zeitenwende« fest: Sie habe ganz gewiss nicht im Februar 2022 gelegen. »Denn dieser hatte eine lange politisch-militärische Vorgeschichte, in der politische wie wirtschaftliche Rahmenbedingungen entstanden, und irgendwann schlug die Quantität in eine neue Qualität um.« Es folgen Ausführungen, zum Einschreiben ins sprichwörtliche Stammbuch geeignet: »Komplexere Betrachtungen zur geopolitischen Situation dürften hier weiterführen als eine schwache linke Politik.« Es brauche »eine klare kritische Haltung zum eigenen Imperialismus«. Und: »Die Berliner Republik ist Teil der aggressiven Politik des US-geführten Westens gegen ein wieder erstarktes, sich wehrendes Russland … Das Umfallen vieler Friedensbewegter, vieler Linker … muss zu denken geben.« Für manchen mag Bollingers anschließende Feststellung übertrieben erscheinen. Aber ist sie es tatsächlich? »Ohne die Vernichtung Russlands wird das Vormachtstreben Washingtons und Europas wenig Überzeugungskraft haben.«

In einer opulenten Tour d’horizon beleuchtet der Autor das deutsch-russische Verhältnis von der Ära des Otto von Bismarck über die sozialdemokratischen »Vaterlandsverteidiger« von 1914, die faschistischen Völkermörder bis hin zu den Bundesregierungen unter Konrad Adenauer und Willy Brandt und dessen Neuer Ostpolitik. Unterbelichtet bleiben die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion. Der historische Exkurs dient der Suche nach Erklärungen und Einordnung heutiger Geschehnisse. Um sodann die Überzeugung zu unterstreichen: »Rapallo war und ist der Weg.« Doch: »Geschichtsrevisionismus ist heute von rechts bis links Mode geworden.«

Bollinger ruft die für sein Thema relevanten letzten zwei Jahrhunderte in Erinnerung, ergänzt um zahlreiche wenig bekannte Details. Für die, die nichts davon wissen oder wissen können, ebenso auch für jene, die nichts mehr davon wissen wollen. Einige, während der Lektüre aufstoßende Ärgernisse sind gewiss in einer Neuauflage leicht zu korrigieren. So hat es eben nach 1945 keine »Westverschiebung« Polens gegeben, sondern eine völkerrechtlich abgesicherte Ausdehnung nach Westen mit – erstmals in der polnischen Geschichte! – gesicherten Grenzen.

In den letzten 265 Jahren trafen Deutsche und Russen vier Mal militärisch aufeinander. Aggressoren waren die Russen nie. Hingegen, 1812/13 und 1944/45, Befreier. Und wenn die Deutschen nicht wieder losmarschieren, dann werden die Russen auch nicht kommen, um den eine deutsche Mär aufspießenden Titel von Bollingers Buch aufzugreifen. Es sei denn als Geschäftsleute, Touristen, Partner – und auch als Freunde. Am Ende vermutet Stefan Bollinger: »Es könnte sein, dass künftige Generationen den Ukrainekrieg ganz anders bewerten als heute üblich.«

Stefan Bollinger: Die Russen kommen! Wie umgehen mit dem Ukrainekrieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen. Verlag am Park, 240 S., br.,, 16 €.

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