»Ein Tabu, über Politik zu sprechen«

Kommunikationswissenschaftler Leonel Yañez Uribe erzählt, wie es nach der Ablehnung des Verfassungsentwurfes in Chile weitergeht

  • Interview: Ute Löhning
  • Lesedauer: 6 Min.
Keine Angst vor Veränderung: In Chile wurde ein sehr fortschrittlicher Verfassungsentwurf abgelehnt, was viele enttäuscht hat.
Keine Angst vor Veränderung: In Chile wurde ein sehr fortschrittlicher Verfassungsentwurf abgelehnt, was viele enttäuscht hat.

Am 4. September hat die chilenische Bevölkerung mit 62 Prozent gegen die Annahme einer neuen Verfassung gestimmt. Ein demokratisch gewählter Verfassungskonvent hatte in den vergangenen zwölf Monaten einen sehr fortschrittlichen Text verfasst, der soziale, feministische und ökologische Aspekte vereint. Damit sollte die 1980 während der Diktatur geschriebene – nicht demokratisch legitimierte Verfassung – ersetzt werden. Woran lag die schwache Zustimmung zum Verfassungsentwurf?

Interview

Leonel Yañez Uribe ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Er lehrt an der Universidad de Santiago de Chile, hat mehrere Jahre für NGOs im Kommunikationsbereich gearbeitet und zählt zu den Befürwortern des neuen Verfassungsentwurfes.

Die chilenische Presse, Radio und Fernsehen spielten eine grundlegende und strategische Rolle. Das Rechazo-Lager (gegen die Annahme des Verfassungsentwurfs, Anm. d. Red.) steckte Millionenbeträge in bezahlte Werbung vor allem im Radio, das in Chile großen Einfluss hat. Die Kommunikationskampagne gegen die neue Verfassung lief bereits an, als der Verfassungskonvent im Juli 2021 zu arbeiten begann. Es gab eine starke Desinformationskampagne gegen die neue Verfassung. So wurde zum Beispiel behauptet, dass diese den Menschen Privateigentum an Häusern verbieten würde. Es wurde ein polarisiertes Klima geschaffen.

Darüberhinaus gab es aber auch Kritik an der Funktionsweise des Verfassungskonvents und seiner Kommunikation nach außen. Worum geht es da?

Ich denke, dass der Konvent in eine technische Sprache und in eine Institutionalisierung verfallen ist, die auch Auswirkungen auf die Art der Kommunikation nach außen hatte. Der Konvent verlor die Beziehung zu seiner Basis. Es war geplant, dass die Konventsmitglieder von Zeit zu Zeit an die Orte gehen würden, an denen sie gewählt wurden. Dazu kam es aber viel zu selten. Über Monate gab es kaum öffentliche Aktivitäten. Den Konventsmitgliedern ging die Orientierung verloren, Prioritäten zu setzen und nach Möglichkeiten zu suchen, die erzielten Erfolge direkt mit der Basis zu kommunizieren, von wo aus diese Dinge in die Nachbarschaften weiter kommuniziert werden könnten. Man hätte das besser machen können.

Was genau hätte man verbessern müssen?

Es geht um eine Strategie, man muss wissen, wie man sich öffentlich darstellt. Da gab es zu wenig Erfahrung. Allerdings habe ich auch den Eindruck, dass die Medien die Kommunikation mit der Basis nicht immer unterstützten oder nur in sehr verkürzter Form. Außerdem gab es sehr schädliche individuelle Aktionen von Konventsmitgliedern. Der bezeichnendste Fall war wohl Rojas Vade, der in den Konvent gewählt wurde, auch mit der Argumentation, er habe eine unheilbare Krankheit. Später stellte sich heraus, dass das eine Lüge war.

Die Wahl war verpflichtend, die Beteiligung lag bei 86 Prozent. Warum erhielt das Rechazo-Lager in den sozio-ökonomisch schwächsten Gebieten am meisten Stimmen?

Diese Menschen kommen nicht mit der Politik in Berührung und haben am wenigsten Bildung. Zwar gab es mit der Revolte von 2019 einen Politisierungsschub, aber dennoch existiert hier eine Art Tabu, über Politik zu sprechen. Und diejenigen, die sich beruflich damit beschäftigen, haben kaum Austausch mit den einfachen Menschen. Hinzu kommt, dass es kaum Unterstützung durch alternative Medien gibt.

Wie geht es nun weiter?

Wichtig ist, dass es jenseits der Ablehnung dieses konkreten Verfassungsentwurfs eine Zweidrittelmehrheit für eine Änderung der Verfassung gibt. Dem haben sogar einige rechte Parteien zugestimmt. Der verfassungsgebende Prozess geht auf eine institutionelle Vereinbarung im Kongress zurück, die ein Zugeständnis an die breite Protestbewegung war, die ab Oktober 2019 in Chile stattfand.

Welchen Wert hat der Verfassungsentwurf jetzt noch für progressive Kräfte?

Es ist das Projekt der Linken, die hier ein Drittel des politischen Spektrums repräsentiert. Es gibt Orientierung. Und es ist ein transformatorisches Projekt, das viele in seiner Radikalität nicht verstanden haben. Die Garantie sozialer Rechte, die feministischen und ökologischen Inhalte, das Konzept eines sozialen und demokratischen Rechtsstaats mit Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung. Die größte Ablehnung hat das Konzept der Plurinationalität hervorgerufen, da spielen auch rassistische Denkmuster hinein. Das wird in einem neuen Verfassungsentwurf wahrscheinlich nicht mehr in der Form Platz finden.

Präsident Gabriel Boric fordert alle im Parlament vertretenen Parteien zu einem zweiten Anlauf zu einer neuen Verfassung auf. Welches politische Spektrum würde sich daran beteiligen?

Neben den Parteien der linken Regierungskoalition geht es auch um die Sektoren des Zentrums. Konservativere oder kapitalistischere sozialdemokratische Gruppierungen, die Christdemokratie und sogar manche eindeutig rechten Parteien wie Renovación Nacional wollen die Vereinbarung einhalten, die Verfassung zu ändern. Kategorische Ablehnung kommt von der Republikanischen Partei, der Partei von José Antonio Kast, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten. Diese möchte nicht an der Verfassung Pinochets rütteln. Die unabhängigen Sektoren, die sozialen Bewegungen, die nicht im Parlament sind, werden aus diesem Prozess vermutlich ausgeschlossen sein.

Welche Auswirkungen hätte dieser Ausschluss?

Es kann zu neuen Protesten und Mobilisierungen kommen. Wir sehen bereits jetzt, wenige Tage nach dem Referendum, erste Demonstrationen von Schüler*innen, den sogenannten »Pinguinos«. Sie waren es auch, die im Oktober 2019 mit dem Springen über U-Bahn-Drehkreuze große Proteste auslösten. Die Vereinigung der Studierenden (Confech) ruft inzwischen ebenfalls wieder zu einer baldigen Mobilisierung auf.

Am 6. September kam es zu einer Regierungsumbildung. Was sind die wichtigsten Veränderungen?

Das Innenministerium wurde neu besetzt. Carolina Toha, früher Ministerin unter der damaligen Präsidentin Michelle Bachelet, löst Izkia Siches als Innenministerin ab. Dieser Posten ist eng verbunden mit Problemen rund um Kriminalität, um den Umgang mit den indigenen Mapuche im Süden des Landes und um die Fragen den Immigration nach Chile, also mit den schwierigsten und kritischsten Fragen, mit denen die letzten Regierungen konfrontiert waren. Außerdem wechselte Giorgio Jackson von der einflussreichen Leitung des Präsidialamts zum Sozialminister, während seinen früheren Posten Ana Lya Uriarte übernimmt – auch sie eine Vertraute Michelle Bachelets.

Geht es dabei um eine Verschiebung nach rechts oder um eine Stabilisierung der Regierung?

Ich sehe darin vor allem eine Art Bitte um Unterstützung von Kadern aus dem Mitte-Links-Spektrum, das sich für die Annahme der neuen Verfassung ausgesprochen hatte, aber insgesamt gemäßigtere Positionen vertritt als das Parteienbündnis, dem auch Präsident Boric angehört. Laut Umfragen war die Zustimmung zur Regierung Boric seit deren Amtseinführung im März gesunken, auch weil sie bislang keine großen Lösungen erreichen konnte. Das wirkte sich auch negativ auf die Zustimmung zum Entwurf für eine neue Verfassung aus.

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