Tatsächlich eine bittere Niederlage

Chiles soziale Bewegungen sind schwer getroffen, werden aber weiter kämpfen

  • Ute Löhning, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

»Das ist tatsächlich eine Niederlage«, sagt die Senatorin Fabiola Campillai, die während der Zeit der sozialen Protestbewegung beide Augen verlor, als ein Polizist eine Tränengasgranate auf sie abfeuerte. »Zweifellos aber werden wir weiter kämpfen, denn wir wollen Chile und seine Geschichte verändern«, so Campillai am Rande einer Pressepräsentation der sozialen Bewegungen. Dabei zogen parteiunabhängige Organisationen wie der feministische Dachverband CF8M, die Wasser- und Umweltbewegung Modatima und Vertreter*innen von Organisationen, die das Recht auf Wohnen und würdige Rentenzahlungen fordern, ein erstes, ein vorläufiges Resümee, aus dem »nd« Auszüge übersetzt:

»Genossinnen und Genossen, als Wahlkampfteam der sozialen Bewegungen richten wir uns an Euch und an alle Nachbar*innen, Arbeiter*innen, indigenen Gemeinschaften, Bewegungen, Organisationen und Menschen aus allen Teilen des Landes, die organisiert haben, um diese neue Verfassung zu verabschieden. An alle, die viel Zeit und Energie in diesen würdigen Kampf eingebracht haben.

Damit die Werbung für das ›Rechazo‹ in das Bewusstsein der Bevölkerung eindringen konnte, reichte es, den Fernseher einzuschalten oder Social Media Kanälen zu folgen. Aber um den Inhalt des Verfassungsvorschlags zu kennen, brauchte es eine Genossin oder einen Aktivisten, einen Freund oder eine informierte Nachbarin, die die Lügen widerlegen und die konzertierte Kommunikationsstrategie neutralisieren konnten, die von der politischen Rechten, aus Wirtschaftskreisen und von den Sektoren finanziert und organisiert wurde.

Wir stehen vor einer großen Aufgabe. Wir dürfen nicht abseits stehen, wenn die Bevölkerung das nächste Mal eine Entscheidung treffen wird. Dann müssen wir überall präsent sein.

Heute geht um eine Wahlniederlage, nicht um die Niederlage eines in die Zukunft gerichteten Projekts. Wir waren mit der wirtschaftlichen Macht jener Sektoren konfrontiert, die das Monopol der Medien innehaben, und die mit all ihren Ressourcen eine auf Lügen und Verzerrungen basierende Kampagne starteten: um Angst einzuflößen, Rassismus und Konkurrenz zwischen dem letzten und dem vorletzten zu schüren.

Bald werden wir wieder aufstehen. Denn kein Bedürfnis, keine Notwendigkeit, kein soziales Problem, das zu diesem politischen Prozess geführt haben, wurde mit der heutigen Entscheidung gelöst. Der Entwurf einer neuen Verfassung gibt eine Mindestmarge an unveräußerlichen Rechten und Werkzeugen vor. Auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben, geben wir uns nicht mit weniger zufrieden. Im Referendum am 25. Oktober 2020 hat die Bevölkerung ihren Willen bekundet, der Verfassung von Pinochet durch die Arbeit eines extra dafür gewählten Gremiums eine Ende zu setzen. Wir weichen keinen Schritt ab von den demokratische Mindestanforderungen, die die Beteiligung der Bevölkerung an zukünftigen Prozessen ermöglichen: Geschlechterparität, Repräsentanz indigener Gemeinschaften durch reservierte Sitze und Listen für partei-unabhängige Personen.

Es ist unerlässlich, dass wir als die organisierten Sektoren, diesen Prozess organisieren. Es gibt kein Zurück mehr. Die Aufgabe, die autoritäre und neoliberale Verfassung zu stürzen, bleibt an der Tagesordnung. In diesem Prozess werden die Lehren, die wir gezogen haben, von grundlegender Bedeutung sein. Die sozialen Bewegungen sind nicht mehr dieselben, die wir vor dem Schreiben dieser Verfassung waren. In diesem Prozess haben die Menschen gelernt, sich selbst zu vertreten, nachdem sie jahrzehntelang außen vor gelassen wurden. Wir sind gekommen, um zu bleiben. Und nachdem wir den bitteren Trank dieses Rückschlags überwunden haben, werden wir vereint weitermachen, die Arbeit im ganzen Land wiederaufnehmen und das soziale Netzwerk stärken.

Denn es gibt keine Möglichkeit, den Fluss zu stoppen, wenn er seinen Lauf gefunden hat.«

Viele von ihnen haben dem solidarischen Umbau der chilenischen Gesellschaft Jahre ihres Lebens gewidmet. Sie waren angespornt von der breiten sozialen Protestbewegung, die seit 2019 auf Chiles Straßen präsent war. Noch am 1. September hatte eine halbe Million Menschen auf der Alameda, der zentralen Promenade im Zentrum Santiagos für das »Apruebo«, die Annahme der neuen Verfassung demonstriert, während zu den Kundgebungen des »Rechazo« nur rund tausend Menschen kamen. Deren Sieg geht auf die mediale und finanzielle Übermacht der Gegner*innen der neuen Verfassung zurück, die es schafften, mit Falschaussagen und Drohungen ein Klima der Angst und der Verunsicherung zu schüren und von der inhaltlichen Debatte um die Verfassung abzulenken.

Senatorin Fabiola Campillai erklärt, die Linke müsse nicht nur auf der Straße präsent sein, sondern vor allem auch in den eigenen – meist sozio-ökonomisch schwachen – Wohnvierteln. »Da, wo viele Menschen leben, die sehr wenig informiert sind, da müssen wir noch präsenter sein und versuchen, alle Menschen noch besser zu erreichen, zu informieren und mitzunehmen«, so Campillai.

Sie jedenfalls wird weiter in der Politik engagieren: Sie wurde 2021 in den Senat, das chilenische Oberhaus gewählt und hat dort einen Sitz bis 2029.

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