Warum Russland (nicht) zusammenbricht

Unter linken Wirtschaftswissenschaftlern sind die Wirkungen von Sanktionen umstritten

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, der wohl größte Zusammenschluss linker Ökonomen in Deutschland, erwartet ein Desaster. Russland gleite in eine schwere Wirtschaftskrise ab. »Die russische Regierung mutet ihrer Bevölkerung eine massive Verarmung zu.« Das Land sei durch seine Rohstofflieferungen weitgehend vom Weltmarkt abhängig, und die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft spielten eine zentrale Rolle für die Finanzierung des öffentlichen Haushaltes, argumentiert die sogenannte Memorandum-Gruppe. Alles deute zwar darauf hin, dass Sanktionen die russische Regierung kurzfristig nicht zum Stopp des Krieges bewegen werden, dennoch sei es geboten, »den von der EU beschlossenen Sanktionskatalog gezielt zu verschärfen«, heißt es in einer »Stellungnahme zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine«, die dem »Memorandum 2022« beigelegt wurde.

Mittlerweile hat die Europäische Union sieben Sanktionspakete beschlossen. Über deren Auswirkungen in Russland sind sich Wirtschaftswissenschaftler, auch linke, weiterhin uneins. In der jüngsten Ausgabe der »Blätter für deutsche und internationale Politik« versucht Michael R. Krätke eine Zusammenschau. Der an Marx geschulte Ökonom und »Konkret«-Autor lehrte an der Universität Lancaster in Großbritannien.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stürzte der Rubelkurs ab. Darauf reagierte die Zentralbank in Moskau erfolgreich mit einer Erhöhung ihrer Leitzinsen und Kapitalverkehrskontrollen. Mittlerweile steht der Rubel-Kurs im Verhältnis zu Dollar und Euro wieder auf Vorkrisenniveau. »Die Aktionen der russischen Zentralbank haben den Rubel zum Schein gerettet, zugleich aber die Abkopplung der russischen Ökonomie von der Weltwirtschaft beschleunigt«, schreibt Krätke. Russlands Ökonomie sei eigentlich stärker als je zuvor in die Weltwirtschaft integriert. Der Außenhandel stellte 2020 fast 46 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Zugleich sei Russland vom Import westlicher Technologie für seine Industrien abhängig. Selbst China habe seine Exporte deutlich reduziert, um Konflikte mit dem Westen zu vermeiden. »Die Sanktionspolitik wirkt.«

Zudem hätten mehr als eintausend westliche Unternehmen Russland verlassen. Dabei sind diese als Arbeitgeber wichtig: Etwa zwölf Prozent der formell Beschäftigten seien von ihnen abhängig, denn wenn ausländische Unternehmen abziehen, trifft das auch die russischen Zulieferfirmen für Bosch, Volvo oder Ikea. »Den Verlust kann Putins Regime nicht wettmachen«, lautet Krätkes Fazit.

Die russische Wirtschaftsleistung ist, wenn man offiziellen Veröffentlichungen Glauben schenken möchte, im zweiten Quartal um vier Prozent gesunken – weniger als nach dem Corona-Ausbruch und weit weniger als von linken Ökonomen zunächst erwartet (bis zu 15 Prozent). Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) ist mittlerweile zurückhaltender geworden. In seinem aktuellen »Economic Outlook« rechnet er für 2022 nur noch mit einem Rückgang um sechs Prozent (vorher 8,5 Prozent), für kommendes Jahr von 3,5 Prozent.

Die wirtschaftsaffine Redaktion des Monatsmagazins »Sozialismus«, Mitherausgeber ist Joachim Bischoff, kommt denn auch zu einem anderen Schluss als Krätke oder die Memorandum-Gruppe: »Die Sanktionen wirken nicht wie gewünscht.« Ein Grund: Die russische Regierung hatte schon vor Jahren begonnen, die staatliche Schuldenquote von 135 Prozent systematisch zu reduzieren und pendelte sich deutlich unter 20 Prozent ein. »Die geringe Schuldenquote sorgt dafür, dass Russland kaum von internationalen Kapitalgebern abhängig ist.«

Und Russlands wichtigstes Exportgut bleibe Rohöl. 2021 wurde Öl für 109 Milliarden US-Dollar ausgeführt; Erdgas ist mit 55 Milliarden nur der zweitwichtigste Devisenbringer. Ukraine-Krieg, Sanktionen sowie die Weigerung wichtiger OPEC-Staaten, ihre Fördermengen zu erhöhen, verdoppelten den Weltmarktpreis für Öl, der Erdgaspreis vervierfachte sich. Selbst wenn Liefermengen nachhaltig sinken sollten und Gazprom, Lukoil & Co. beim Preis Zugeständnisse machen müssen, dürften 2022/23 mehr Dollar, Euro und Rubel in russische Kassen fließen als jemals zuvor.

Diese Erwartung bestätigt übrigens ein Blick in die deutsche Handelsbilanz: Die Importrechnung aus Russland belief sich im ersten Halbjahr auf 23 Milliarden Euro – im Vorjahr waren es im gleichen Zeitraum lediglich 15 Milliarden. »Exportgewinne und Steuern auf die fossilen Brennstoffe werden von der Regierung über den sogenannten Fonds der Nationalen Wohlfahrt im gesamten Land verteilt, um beispielsweise das Rentensystem zu stabilisieren«, schreibt »Sozialismus«. Dass Sanktionen am Regime in Moskau weitgehend »abperlen« liege auch daran, dass Schwergewichte wie China und Indien, aber auch die Regionalmacht Türkei diese nicht mittragen.

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