Die Qual des Sozialen

Die Berliner Galerie Eden Eden zeigt die Arbeit »Sorcerer« des britischen Medienkünstlers Ed Atkins

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 6 Min.
Unheimlicher Smalltalk: Die Figuren in »Sorcerer« tauschen sich auch über ihre Gewaltfantasien aus.
Unheimlicher Smalltalk: Die Figuren in »Sorcerer« tauschen sich auch über ihre Gewaltfantasien aus.

Die unwiderstehliche Perfektion, die für eine Freundin in der Vorstellung liegt, dass die Ecke eines Backsteins ihr das Schlüsselbein bricht und maximalen Schmerz verschafft. Die einhellige Erkenntnis in einer Abendgesellschaft, dass sich Kopfschmerzen so anfühlen, als ob eine Muschel den Schädel einzwängt und er wie in einer Müllpresse zu einem Würfel verarbeitet würde. Diese autodestruktiven Gewaltfantasien sind Gesprächsthemen von drei Menschen mittleren Alters, die sich wenige Minuten zuvor noch darüber austauschten, ob man nun lieber mit den Ärmchen oder dem Köpfchen zuerst ein Oberteil anzieht, aus Hose und Unterwäsche besser nacheinander oder auf einmal herausschlüpft. Der Körperhorror schlummert in den alltäglichsten Bewegungen in dem Theaterstück »Sorcerer« (zu deutsch Zauberer), das der britische Medienkünstler Ed Atkins zusammen mit dem amerikanischen Dichter Steven Zultanski geschrieben und abgefilmt hat. »Sorcerer« spielt in einer spärlich dekorierten, aber sauber und praktikabel eingerichteten Wohnung, die als Bühne eines Kammerspiels dient, in dem Menschen zu melancholischen und morbiden Sims geworden sind: Sie wissen, dass man in Gesellschaft lächelt, sich auch für einen Abend ohne Spaß brav bedankt und nach zwei kleinen Bier besser nach Hause geht.

Die drei Personen des Stücks, ein Gastgeber und seine zwei Besucherinnen, praktizieren einen zwischenzeitlich unerträglichen Smalltalk. Doch seltsamerweise haben sowohl die Figuren als auch man selbst als Zuschauer bei all dieser Eintönigkeit dennoch Angst vor jeder kleinen Abweichung. Eine solche wird als Fehlleistung, als heftige Störung empfunden. Warum hustet er so eklig? Warum summt sie so laut? Das Sounddesign des Theaterstücks lässt jedes Geräusch, erzeugt durch das schiere Vorhandensein der Körper und der physischen Umgebung, als ein Zeichen von Gefahr erscheinen. Etwas Schlimmes schwelt hier. Nach fadem Blabla wird urplötzlich über den Gestank fauler Eier philosophiert, nach Verben gesucht, mit denen man das Herausnehmen von Augen beschreiben kann oder es werden en passant Todesängste geäußert. Im übernatürlichen Sinne zauberhaft ist hier wenig: Als die Besucherinnen der Abendgesellschaft sich bei ihrem Gastgeber verabschiedet haben, schwebt eine Druckerpatrone über dem Küchentisch und ein Bett, das in einem Nebenzimmer ausgestellt ist, scheint zu atmen. Die Dinge tun aber keinem was. Der junge Mann merkt davon nichts, sondern ist damit beschäftigt, seine Arme im Mülleimer oder zwischen den Sofa-Elementen verschwinden zu lassen, die Heizung zu streicheln, sich an den Kanten seiner Inneneinrichtung kompulsiv anzuschmiegen. Das einsame Kerlchen will in seiner generischen Inneneinrichtung verschwinden. Dass sich die drei Freunde anfänglich mit einem Fragespiel unterhalten, bei dem es darum ging, welche Fähigkeit man gerne nach dem Aufwachen urplötzlich perfekt beherrschen würde – vom Schneidern, Klavierspielen, und Programmieren können sie nur träumen – verstärkt den Eindruck, dass sie sich selbst als machtlose Figuren wahrnehmen, die von magischer Hand ohne ihr Zutun wie in einem Computerspiel mit Fähigkeiten aufgewertet werden wollen.

Nachdem die Besucherinnen verschwunden sind, positioniert sich der Gastgeber vor einem riesigen Bildschirm, der ganz selbstverständlich in der Mitte des Raumes angebracht ist, auf dem er sich selbst überlebensgroß beobachten kann. Dann beginnt er, Amputationen nachzustellen und dabei möglichst glaubwürdige Geräusche von sich zu geben. Er tut so, als würde er sich die Augen herausreißen, sich die Zähne ziehen und zum Schluss den eigenen Kopf abnehmen. Es scheint, als ob eine Puppe losgelassen wurde, der nichts Besseres einfällt, als sich in der Fantasie selbst zu verstümmeln, weil sie nur auf diese Weise etwas fühlt in der großen Sterilität des sozialen Versagens. Die Darsteller werden im Erwachsenenalter von einem melancholischen und letztlich selbstzerstörerischen magischen Denken befallen; es scheint sich ein Puppenspiel verselbstständigt zu haben. Kleinste Anzeichen von Menschlichkeit, Tränen oder Husten etwa, muten nostalgisch an. Fast ohne dass Spezialeffekte im Theaterstück respektive dem Film verwendet werden, scheint sich die Menschenwelt in eine kraftlose und qualvolle Virtualität zu verwandeln.

»Sorcerer« läuft derzeit in der Galerie Eden Eden in Berlin-Schöneberg – in einem kalten Raum mit großem Bildschirm. Im Vorzimmer ist der »Zauberer« nochmal auf einem quadratischen Fernseher zu sehen, in einem Türrahmen hängt die Zeichnung eines ausgerissenen Auges und Besucher können das erwähnte Bett beim Atmen beobachten. Von draußen reinschauen kann man ins Eden Eden nicht. Neben der mit einem PIN elektrisch gesicherten Tür liest man noch von den Dienstleistungen, die in diesen Räumlichkeiten früher angeboten wurden: Allopathie, Biochemie, Homöopathie, Harnanalysen. Eden Eden liegt auf der Bülowstraße, einstmals bekannt für den Straßenstrich – den gibt es noch immer, heute beheimatet die Straße aber auch unter anderem Sony Music. In Verbindung mit der Backsteinkirche gegenüber der Galerie wirkt der Ort wie Museum und Themenpark zugleich. Am Schöneberger Ufer werden, zwanzig Gehminuten entfernt, weitere Arbeiten von Ed Atkins in der mit der Galerie Eden Eden zusammenhängenden Galerie Isabella Bortolozzi gezeigt, die in einem schicken Altbau untergebracht ist, unweit von der Staatsbibliothek und der Neuen Nationalgalerie. Besonders das Video »The Worm« ist hier von Interesse: Ein mithilfe von 3D-Computergrafik erstellter und animierter Avatar-Mann mit korrektem Haarschnitt und maßgeschneidertem Tweed-Anzug sitzt auf einem Bauhausstuhl, raucht Lucky Strike und telefoniert ohne sichtbare technische Hilfe mit seiner Mutter. Die erzählt vom Sterben der Großmutter, dem Aufwachsen als vernachlässigtes Kind, der ständigen Sorge um die alte Frau, dem Unbehagen an der eigenen Körperlichkeit. Das Video wird auf eine Pressspanplatte projiziert, die so viel Raum in der abgedunkelten Galerie einnimmt, dass man dem computeranimierten Gesicht ganz nahekommen muss. Hochaufgelöste Bartstoppeln und scharf gerendertes Zahnfleisch geraten in den Fokus, nervöse Handbewegungen, während im Hintergrund, von unsicherem Lachen begleitet, ein alter Mensch, ohne sich eine wahre Klage zuzutrauen, von den Selbstzweifeln berichtet, die ihn ein Leben lang umgetrieben haben. Der aalglatte Sohn, der wie ein Businessmann-Zitat im Verhör seiner eigenen Biografie wirkt, kann meistens nur Zustimmungsgeräusche von sich geben oder einsilbig beteuern, dass er zuhört, versteht, fühlt. Die Stimmen stammen von Atkins und seiner Mutter selbst.

Diese heftigen Beschwerden, irgendwie zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten, die Vorherrschaft einer sozialen Apathie, durch die wiederum Körperlichkeit, die von Angst besetzt ist, entsteht, Computerfiguren doch eine übernatürliche Makellosigkeit versprechen, sind Elemente, die Ed Atkins Arbeiten zu intensiven, ja somatischen Erfahrungen machen. Das Unbehagen in der Perfektion der glatten Computeranimation zieht sich durch sein Schaffen. Die 2017 im Berliner Gropius Bau gezeigte Einzelausstellung »Old Food« zeigte sich scheinbar zu Tode schwitzende Mönche und Riesenbabys, die wie von Zauberhand durch pittoreske Hütten in hübschen Ländereien geschleudert werden, während zwischen den Bildschirmen alte Opernkostüme installiert wurden, die bis zur Decke reichten. Diese Dummys in der Geschichte beziehungsweise ihren muffigen Ruinen machten Ed Atkins berühmt. »Sorcerer« wird im Rückblick auf diese Werke nur umso eindringlicher. Die netten Normalos erscheinen auf der physischen Theaterbühne jetzt selbst wie jene CGI-Dummys. Es geht nicht um billig-humanistischen Grusel, bei dem man sich gegen Computerfiguren der eigenen Menschlichkeit versichert. Die Ohnmacht der Dummys scheint in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. »Sorcerer« motiviert eher dazu, die eigene Angleichung an jene hyperrealistischen Versuchsobjekte aus dem Computer zu überprüfen, zu fragen, wie oft man sich unmündig auf einer Bühne fühlt und jedes bisschen unwillkürliches Körperempfinden einem Angst einjagt.

Ed Atkins: »Sorcerer«, bis 5. November, Galerie Eden Eden, Berlin (geöffnet donnerstags bis samstags, Termin für den Besuch eines Screenings buchbar unter www.bortolozzi.com)

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