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Putin geht an seine Reserven
Moskaus Einberufungsbefehle treffen im Land auf wenig Begeisterung
»Heute wurde Ihnen eine Vorladung zugeschickt… Morgen um 10 Uhr müssen Sie sich melden«, sagte der Anrufer. Der Angerufene widersprach. Natürlich habe er kein Problem damit, das Vaterland zu verteidigen, doch müsse er erst einmal sehen, »was in Bezug auf mich machbar ist«. Das werde er »auf einer anderen Ebene regeln«. Es heißt, das Telefongespräch zwischen dem mutmaßlichen Rekrutierungsbeamten und Nikolai Peskow, dem Sohn des Kremlsprechers, sei ein »Scherz« gewesen. Klar ist, dass der Anrufer – er heißt Dmitri Nisowzew und steht als Blogger dem eingesperrten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nahe – anderes im Sinn hatte.
Das im Internet nachhörbare Gespräch verrät so einiges über die Art und Weise, wie die vom Präsidenten angeordnete Teilmobilisierung läuft. Wer wohlhabend ist und über Beziehungen verfügt, nimmt seine Pflicht zum Schutz von »Mütterchen Russland« nicht so ernst. Dennoch sind westliche Berichte über Massenfluchten wehrfähiger Männer übertrieben. Das russische Verteidigungsministerium versichert, trotz Teilmobilmachung seien »Einschränkungen der Freizügigkeit von Bürgern nicht vorgesehen«.
Noch gibt es in Moskau offenbar keine Absicht, Grenzen zu schließen. Das ist in Richtung Westen auch unnötig. Lettland, Litauen, Estland und Polen haben selbst ihre Grenzen für Russen dicht gemacht. Finnland wird in den kommenden Tagen über Restriktionen entscheiden, sagte Außenminister Pekka Haavisto. In sein Land reisten zuletzt 80 Prozent mehr Russen ein als eine Woche zuvor. Auch das kasachische Innenministerium meldet eine Zunahme der legalen Grenzübertritte. Wer die Grenze illegal überschreitet, wie jüngst drei junge Russen in der Region Kostanay, muss mit harten Geldstrafen von bis zu 200 000 Rubel (3500 Euro) rechnen. An der russisch-georgischen Grenze in Nordossetien wird demnächst ein Rekrutierungsbüro eröffnet. Der »Wink mit dem Zaunpfahl«, am Dienstag verbreitet von der amtlichen Nachrichtenagentur Tass, wird gewiss richtig verstanden.
Proteste im Kaukasus
Generell würden viele Falschmeldungen über den Verlauf der Teilmobilmachung verbreitet, behauptet Putins Sprecher, Dimitri Peskow. Als ein Journalist ungewöhnlich »dreist« fragte, ob auch schon Mitarbeiter aus der Verwaltung des Staatsoberhauptes mobil gemacht wurde, bekam er von Peskow sen. zu hören, dass dies erstens »eine persönliche Angelegenheit« sei und zweitens kämen Vorladungen ja nicht am Arbeitsplatz an. Gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax schloss Putins Sprecher jedoch nicht aus, dass es Zwangsmaßnahmen und Gewalt bei der Rekrutierung von Reservisten gegeben habe. Da sei eindeutig »gegen das Dekret verstoßen worden«.
Putins Mobilmachungsdekret ist jetzt eine Woche alt. Obwohl zurückhaltend, so vermelden russische Medien dennoch Proteste. Unter anderem in der Kaukasusregion Dagestan habe es Zusammenstöße gegeben. Dort lebt jeder Zweite unter der offiziellen Armutsgrenze. Gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung sind ethnische Russen. Auch anderenorts sehen Angehörige nichtrussischer Völker, oft Muslime, nicht ein, warum sie für Moskaus Interessen in der Ukraine sterben sollen.
Öffentliche Proteste werden zumeist rasch erstickt. Dabei wirkt die auch im russischen Fernsehen gezeigte Begleitung von Eingezogenen durch Ehefrauen, Freundinnen und Kinder oft genug wie eine Demonstration des Unmutes. In anderen Regionen wurde der Verkauf von Alkohol im nahen Umkreis von Rekrutierungsbüros und Kasernen verboten. Aus guten Gründen, wie Twitter-Nachrichten zeigen. Zu Wochenbeginn bestätigte der Gouverneur der Region Irkutsk, Igor Kobzew, dass ein Rekrutierer in Ust-Ilimsk im Krankenhaus um sein Leben ringt. Grund: Ein junger Mann habe im Registrierungsbüro aus Frust über die Einberufung eines Freundes eine Schießerei begonnen.
Moskau will den Schein der Normalität wahren
Laut Verteidigungsminister Sergei Schoigu, der vor wenigen Tagen seinen Stellvertreter Dmitri Bulgakow durch eine auch an ihn als Warnung gerichtete Abberufung verloren hat, werden aktuell bis zu 300 000 Reservisten eingezogen. Theoretisch sind das etwa 1,1 Prozent der gesamten Mobilisierungsressourcen, heißt es aus Schoigus Ministerium. Vorerst betroffen seien Reservisten der ersten Kategorie, das heißt Soldaten, Unteroffiziere und Leute mit Fähnrich-Dienstgrad unter 35 Jahren sowie Offiziere unter 50 Jahren. Nach dem Ausscheiden aus der Armee haben sie einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet und werden regelmäßig zu Auffrischungsübungen gezogen. Das geschehe auch jetzt vor dem unmittelbaren Einsatz. Besoldet werden sie wie normale Zeitsoldaten. Beschäftigte aus dem Verteidigungsbereich bleiben verschont. So wie jene, die aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend nicht wehrfähig sind, nahe Verwandte pflegen müssen, mindestens vier Kinder unter 16 Jahren haben, alleinerziehend oder gewählte Mitglieder der Staatsduma sind.
Insgesamt scheint man in Moskau nun bemüht, dass die Teilmobilmachung nach Recht und Gesetz ausgeführt wird. Man versucht, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Doch nun kommt der Krieg, der weiterhin »Spezialoperation« genannt werden muss, in vielen Familien an. Viele befürchten, dass der im Sinne Moskaus positive Ausgang der Einverleibungsabstimmungen in vier eroberten ukrainischen Regionen ein qualitativ neues Konfliktpotenzial erzeugt. Denn eine ukrainische Offensive gegen so ein von Moskau reklamiertes Gebiet käme dann einem Angriff auf Russland gleich. Der Vizechef des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, erklärte am Dienstag, sein Land habe »das Recht, bei Bedarf Atomwaffen einzusetzen«. Wer sich Moskaus aktuelle Nukleardoktrin anschaut, weiß, dass dieser »Bedarf« bereits durch einen konventionellen Angriff von außen entstehen kann.
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