Stadtentwicklung nach Gutsherrenart

Berlins Bausenator Andreas Geisel und Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt pfeifen auf Beteiligung, wenn sie ihnen nicht in den Kram passt

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 7 Min.
Altstadt aus der Retorte: Das ist die Vision der Stiftung Berlin Mitte für den Molkenmarkt im Jahr 2028.
Altstadt aus der Retorte: Das ist die Vision der Stiftung Berlin Mitte für den Molkenmarkt im Jahr 2028.

Ein Sturm zieht durch Berlin. Es ist ein Sturm der Entrüstung über die Entscheidung von Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD), dass das Wettbewerbsverfahren für die künftige Gestaltung des Molkenmarkts ohne die Kür eines siegreichen Entwurfs beendet worden ist. Rund 200 Initiativen, Institutionen und Einzelpersonen haben als Erstunterzeichnende den am Donnerstag veröffentlichten »Aufruf für ein soziales und ökologisches Modellquartier am Molkenmarkt« unterstützt.

»Hoffnungsvolle Entwicklungen« hätten sich in den letzten Jahren an diesem Standort vollzogen. Zum ersten Mal sei »bewusst ein Innenstadtquartier mit den Anforderungen der Bauwende konfrontiert« worden. In einem aufwendigen, zwei Jahre dauernden Partizipationsverfahren seien dazu acht Leitlinien erarbeitet worden, die bezahlbare Wohnungen und kostengünstige Kulturräume in einer dichten städtischen Umgebung in der historischen Innenstadt mit den Anforderungen an Klimawandel und Klimaresilienz zusammenbrächten. Zudem sollten die Grundstücke nicht privatisiert, sondern durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften entwickelt werden.

Außerdem habe das Verfahren gezeigt, dass diese Leitlinien auch umsetzbar seien, heißt es im Aufruf. Voll entsprochen habe diesen der erstplatzierte Entwurf von OS Arkitekter mit Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt. Selbst der im Zwischenkolloquium im vergangenen Jahr noch deutlich von den Vorgaben abweichende, ebenfalls erstplatzierte Vorschlag des inzwischen verstorbenen Architekten Bernd Albers zusammen mit Silvia Malcovati und Vogt Landschaftsarchitekten hat sich im Verfahren deutlich an die Lösungen der Kolleginnen und Kollegen angenähert und eine stärkere soziale und ökologische Ausrichtung erfahren.

»Umso unverständlicher ist, dass diese Verfahren am 13. September 2022 ohne die Auswahl eines Entwurfs für die Weiterarbeit beendet wurden. Dieses Vorgehen steht im Gegensatz zur Auslobung«, heißt es im Aufruf, der unter anderem vom Berliner Landesverband des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten, von der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen und der Präsidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, unterzeichnet wurde.

Die Jury-Vorsitzende Christa Reicher und die Senatsbaudirektorin bemühten sich nach Kräften, bei der Pressekonferenz am 14. September darzulegen, dass es niemals vorgesehen gewesen sei, einen Sieger zu küren. Diese Darstellung widersprach nicht nur dem Text der Auslobung, sondern auch der »nd« vorliegenden Antwort des Projektleiters zum Molkenmarkt in der Stadtentwicklungsverwaltung auf eine Bürgeranfrage. Noch am 7. Juni legte er dar, »dass im letzten Verfahrensschritt des Werkstattverfahrens ein Entwurf durch die Jury ausgewählt werden« soll, »dessen quartiersbezogene, konzeptionelle Aussagen stark genug sind, die Grundprinzipien der Nutzung und Gestaltung des Gesamtquartiers zu definieren«. Die Stadtentwicklungsverwaltung geht in ihrer Antwort auf die präzisen Fragen von »nd« überhaupt nicht ein, sondern beschreibt einfach, was bisher geschah und was noch passieren soll. Dabei hatte sie vier Tage Zeit.

»Diese willkürliche Beendigung des Verfahrens missachtet die hohen ideellen wie ökonomischen Investitionen aller an den Verfahren teilnehmenden Architekt*innen und insbesondere der Gewinner des Wettbewerbs, die sich mit sehr engagierten Beiträgen auf das zweite Werkstattverfahren in vollem Vertrauen eingelassen haben«, so der Aufruf. Die Forderung: »Das Verfahren muss deshalb, wie in der Auslobung vorgesehen, unter Wahrung der Autorenschaft eines Teams und mit der Auswahl eines Entwurfs für die Weiterarbeit abgeschlossen, das weitere Vorgehen transparent gestaltet und die Einhaltung der Leitlinien gesichert werden.«

Man mag es für Zufall halten oder nicht, dass just am Dienstag die im Juli gegründete »Stiftung Mitte Berlin – Für das Herz der Stadt« per Pressemitteilung über ihre Ziele informierte: Nämlich fast die gesamte von Spree und Stadtbahn umschlossene Fläche mit dem Fernsehturm im Zentrum auf dem historischen Straßengrundriss und mit historisierenden Gebäuden zu bebauen. Garniert ist das Ganze mit Visualisierungen, wie denn der Nachbau der Berliner Innenstadt von 1928 aussehen könnte: Sehr steinern und wenig barrierefrei, denn zu vielen Altbauimitationen auf den Bildern führen Eingangsstufen.

Eine inklusive Gesellschaft und die Klimakrise spielen in der Vorstellungswelt der Stifterin Marie-Luise Schwarz-Schilling offenbar keine Rolle. Immerhin ist die Erbin der längst verkauften Sonnenschein-Batteriefabrik stolze 90 Jahre alt. Älteren dürfte ihr Mann, der einstige Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling (CDU) bekannt sein, der seinerzeit als »affärenreichster Minister« von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) galt. Auslöser der Affären waren meist die Verwicklungen des Unternehmens seiner Frau in politische Entscheidungen des Ministers.

Heimatkunde sei ihr Lieblingsfach in der Schule gewesen, und die Stiftung solle »Motor der Wiedergewinnung der Berliner Altstadt« sein, lässt Marie-Luise Schwarz-Schilling wissen. Bei so einem Anliegen ist in Berlin Benedikt Goebel nicht weit, der dann auch folgerichtig stellvertretender Vorsitzender der Stiftung ist. Er ist seit 2011 Sprecher der von ihm mitbegründeten »Planungsgruppe Stadtkern«, in der sich auch die heutige Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt engagierte. Deren Ziel: Eine kleinteilige Parzellierung und teilweise Privatisierung der Grundstücke am Molkenmarkt.

Das Team der Stiftung komplettieren der Immobilienmanager David Kastner, dessen Firma Pentanex laut Homepage in vielen zentral gelegenen Berliner Objekten für die »Verbesserung« der »Mietperformance« gesorgt hatte – also gesteigerte Mieteinnahmen –, sowie ein Projektmanager.

»Es ist ziemlich krass, was hier läuft. Es geht um fragwürdige architektonische Prozesse, die immer zusammen mit der Bodenfrage gesehen werden müssen«, sagt Architektin Roberta Burghardt am vergangenen Samstag bei einer Podiumsdiskussion zum Molkenmarkt über die Vorgänge. Sie nennt es ein »konservatives Projekt eines Altstadt-Wiederaufbaus, gemischt mit dem Projekt der Privatisierung«. Kleine Häuser führen zu sehr hohen Baukosten, die das Ziel, städtische Wohnungen zu errichten, torpedieren würden. Die Veranstaltung war Teil des von Deutsche Wohnen & Co enteignen veranstalteten Fests auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ein Jahr nach dem erfolgreichen Volksentscheid.

»Es ist eine ganz wichtige Marschrichtung der letzten Legislatur gewesen, dass wir ganz klar eine öffentlich kontrollierte Stadtentwicklungspolitik für die Zukunft sichern können. Das ist in den Koalitionsverhandlungen vor einem Jahr schon zur Disposition gestellt worden«, erläutert Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Der Molkenmarkt war im Übrigen von den Sozialdemokraten in den Koalitionsverhandlungen sehr klar vorgetragen worden als Blaupause für eine Rückabwicklung dieser öffentlich kontrollierten Stadtentwicklungspolitik«, so die Politikerin weiter. »Sie haben sehr klar gesagt, dass sie ein gemischtes Quartier mit vielfältigen Eigentumsstrukturen wollen. Das klingt vielleicht sogar anschlussfähig, öffnet aber Tür und Tor für alle privaten Investoren.« Die Frage der Vielfältigkeit »klingt vielleicht dufte in den Ohren der Linken, heißt aber im Kopf der Rechten: Vielfalt durch Eigentum.«

Wohin das führen kann, zeigt der Werdersche Markt in Mitte. Anfang der 2000er Jahre wurden dort Grundstücke zum Schnäppchenpreis an Private vergeben, auf denen dann schmale sogenannte Townhouses gebaut wurden. Architektin Burghardt schätzt die damaligen Gesamtkosten auf rund 800 000 Euro pro Einheit. Zehn Jahre später wurden die ersten Häuser für 8 Millionen Euro verkauft. Derzeit ist eines für 11 Millionen Euro im Angebot, ein anderes wird für 13 900 Euro monatliche Kaltmiete inseriert.

Schlüssel für die Umsetzung der Projekte ist die Aushebelung der Beteiligungsverfahren. Selbst Abgeordnete der Koalitionsfraktionen beklagen, nicht richtig informiert und beteiligt zu werden. Grünen-Stadtentwicklungspolitiker Julian Schwarze nennt gegenüber »nd« neben dem Prozess am Molkenmarkt auch jene zur Umgestaltung von Jahn-Sportpark und -Stadion in Prenzlauer Berg und zum Checkpoint Charlie. »Das Thema Jahn-Sportpark ist allein von mir mehrfach in verschiedenen Formaten gegenüber dem Senat angesprochen und kritisiert worden«, berichtet er. Zu einer Jurysitzung seien als Gäste die Fachausschüsse für Sport und Stadtentwicklung vorgesehen gewesen. Jedoch sei keiner der beiden als Ausschuss eingeladen worden.

»Es sieht so aus, dass die Verwaltung von SPD-Senator Andreas Geisel entweder völlig desorganisiert und chaotisch arbeitet oder bewusst Gremien oder Organisationen außen vor lässt«, sagt Schwarze. Das koste Zeit und »sorgt somit letztlich für unnötige Verzögerungen bei Bauprojekten«. Katalin Gennburg von der Linksfraktion bestätigt die Darstellung. Auf eine Bitte von »nd« um Stellungnahme dazu geht die Stadtentwicklungsverwaltung überhaupt nicht ein.

Im August ging der Beteiligungsbeirat an die Öffentlichkeit. Mitglieder des für die Weiterentwicklung der Leitlinien für die Bürgerbeteiligung zuständigen ehrenamtlichen Gremiums berichteten, dass Geisel und Kahlfeldt ihre Arbeit abwürgten. Zu dem Zeitpunkt waren bereits drei geplante Sitzungen aus wenig nachvollziehbaren formalen Gründen von der Verwaltung kurzfristig abgesagt worden. Das Verhalten erzürnte auch Dennis Buchner (SPD), den Präsidenten des Abgeordnetenhauses. In einem »nd« vorliegenden Brief an den Beirat schrieb Buchner vor drei Wochen: Er »bedaure sehr«, dass die Stadtentwicklungsverwaltung »den Eindruck, das Abgeordnetenhaus von Berlin würde in irgendeiner Weise die Sitzungen des Beteiligungsbeirats torpedieren, welcher durch die irreführenden Behauptungen der Senatsbaudirektorin erweckt wurde, noch immer nicht korrigiert hat«.

Die Intervention Buchners hat offenbar gewirkt. Am 17. Oktober soll der Beirat erstmals offiziell tagen, berichtet Hendrikje Klein, die Sprecherin für Bürger*innenbeteiligung der Linksfraktion. »Andreas Geisel glaubt, im Alleingang wieder den Rückwärtsgang bei der Beteiligung einlegen zu können«, kommentiert sie die Vorgänge gegenüber »nd«. »So lange, wie er in der Politik ist, müsste er doch wissen, dass er damit auch Prozesse, die in seinem Interesse sind, aufhält«, so Klein weiter.

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