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  • Nobelpreis für Physik 2022

»Spukhafte Fernwirkung« geadelt

Pioniere der modernen Quantenphysik für Theorie und Anwendung verschränkter Photonen geehrt

  • Dirk Eidemüller
  • Lesedauer: 7 Min.

Die diesjährigen Nobelpreise sorgten am Montag und Mittwoch für eine kleine Überraschung: So hatte vermutlich kaum jemand ausgerechnet die Paläogenetik beim Preis für Medizin und Physiologie auf dem Schirm. Und am Mittwoch bekam mit dem US-Chemiker K. Barry Sharpless in der gleichen Sparte die Auszeichnung ein zweites Mal. Das gelang vor ihm nur dem britischen Biochemiker Frederick Sanger. Weniger überraschend war die Entscheidung des Nobelkomitees bei der Vergabe des Physik-Nobelpreises. Die drei Experimentalphysiker Alain Aspect, John Francis Clauser und Anton Zeilinger galten schon lange als heiße Anwärter auf die größte wissenschaftliche Auszeichnung. Verdient haben sie ihn mit jahrzehntelanger Arbeit an den tiefsten Grundlagen der modernen Physik. Es ist ihnen gelungen, alte naturphilosophische Fragen aus den Anfangsjahren der Quantenphysik mit genialen experimentellen Methoden einer Entscheidung zuzuführen. Dabei haben sich – sozusagen als Nebenprodukt – zahlreiche neue technische Möglichkeiten ergeben, die heute die Entwicklung der Quanteninformationstechnik voranbringen und etwa bei Quantencomputern oder in der Quantenkryptografie eingesetzt werden.

Wenn man verstehen will, woran die diesjährigen Preisträger gearbeitet haben, darf man nicht an ein konkretes Problem denken, das es zu lösen galt – wie etwa die Suche nach dem Higgs-Boson oder nach Schwarzen Löchern oder Exoplaneten. Die Arbeit an den Grundlagen der Quantenphysik geht zurück auf die fundamentalen begrifflichen Schwierigkeiten, mit denen die Quantenphysik von Anfang an zu kämpfen hatte: Im Gegensatz zur klassischen Physik gibt es in der Quantenphysik so etwas wie einen »objektiven Zufall«, der sich nicht auf die Unkenntnis des Beobachters reduzieren lässt. Außerdem können Quantenobjekte miteinander in den Zustand der Verschränkung geraten, wobei sich die Eigenschaften des Gesamtsystems über alle Mitglieder dieses Ensembles verteilen – und zwar auch dann, wenn sie räumlich weit getrennt sind. Diese Quantenobjekte können Atome, Elektronen oder durchaus auch makroskopische Objekte wie supraleitende elektrische Schwingkreise sein – Hauptsache, sie lassen das empfindliche und leicht zu störende Phänomen der Verschränkung zu.

Nobelpreis für Physik

Alain Aspect (Jg. 1947) wurde in der südfranzösischen Stadt Agen als Sohn eines Lehrerpaares geboren. Nach Studium und Promotion an der Universität von Paris-Sud, Orsay, forscht er bis heute in Paris, inzwischen auch an der renommierten École Politechnique in Palaisau bei Paris.

John Clauser (Jg. 1942) wurde als Sohn eines Luftfahrtingenieurs in Pasadena (Kalifornien) geboren. Nach dem Studium am California Insti­tute of Technology und an der New Yorker Columbia University forschte er unter anderem an der University of California in Berkeley und war als selbstständiger Berater tätig.
Anton Zeilinger (Jg. 1945) wurde in Ried im Innkreis geboren. Nach Studium und Promotion an der Universität Wien forschte er unter anderem am Massachusetts Institute of Technology in Boston (USA) in München, Oxford und Paris. Seit 1999 ist er Professor an der Uni Wien.

Man kann die Verschränkung an einem Beispiel veranschaulichen: Wenn man zwei gewöhnliche Würfel wirft, erhält man zwei Zahlen, die beide völlig unabhängig voneinander sind. Wenn der eine Würfel eine Eins zeigt, kann der zweite Würfel mit gleicher Wahrscheinlichkeit eine Eins oder Zwei oder jede andere Zahl zeigen. Bei verschränkten Quantenwürfeln ergibt sich aber Folgendes: Der erste Würfel ergibt immer eine völlig zufällige, unvorhersagbare Zahl. Der zweite zeigt aber immer exakt die gleiche Zahl! Und zwar auch dann, wenn er weit vom ersten Würfel geworfen wird, sogar in vielen Lichtjahren Entfernung. Es scheint so, als würden sich beide Würfel miteinander absprechen – und über große Entfernungen sogar mit unendlicher Geschwindigkeit, was laut Einsteins Relativitätstheorie eigentlich strikt verboten ist.

Diese nicht lokalen Eigenschaften der Quantentheorie waren Einstein von Anfang an zuwider. Er stritt deshalb mit Niels Bohr schon bei der Solvay-Konferenz 1927 in Brüssel ausgiebig über die Grundlagen der Quantenphysik, die gerade erst von Forschern wie Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Erwin Schrödinger, Max Born und Paul Dirac formuliert worden war. Bohr konnte Einsteins Einwände damals allesamt abwehren, sodass Einstein gezwungen war, sich mehrere Jahre lang Gedanken zu machen, wie er die Quantentheorie besser attackieren konnte. Einstein brachte dann 1935 mit seinen zwei Mitstreitern Boris Podolsky und Nathan Rosen eine Studie heraus, die bis heute zu den meistzitierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen überhaupt zählt und in der die drei Autoren das nach ihren Namen benannte EPR-Paradoxon beschreiben.

Der Ansicht der Autoren zufolge besitzt die Quantentheorie einen nicht lokalen Charakter, der die scheinbar nicht lokalen Ereignisse in den Quantenexperimenten zwar korrekt beschreibt. Eine bessere Theorie sollte diesen nicht lokalen Charakter aber nicht aufweisen, sondern die Messergebnisse auf lokale physikalische Größen zurückführen können. Etwas weniger abstrakt: Eine verbesserte Quantentheorie sollte etwa zur Beschreibung von Quantenwürfeln zusätzliche, verborgene, bislang unbekannte Parameter einführen, die jeden der beteiligten Quantenwürfel darauf festlegen, welche Zahl er bei einer Messung zeigen wird. Dann wäre die mysteriöse Übereinstimmung zwischen ihnen, die Einstein eine »spukhafte Fernwirkung« nannte, ganz klassisch erklärbar. Mit dieser scharfen Analyse verabschiedete sich Einstein übrigens von den Entwicklungen der modernen Physik und wandte sich seinem privaten Projekt einer klassisch-physikalischen, allgemeinen Feldtheorie zu, mit der er diese Probleme lösen wollte.

Allerdings lässt sich die Quantenphysik nicht einfach so in klassischen Modellen ausdrücken – dazu sind ihre Begriffe und mathematischen Methoden zu andersartig. Es gelang dem irischen Theoretiker John Stewart Bell jedoch im Jahr 1964 – also nach Einsteins Tod im Jahr 1955 –, die philosophisch formulierten Fragen des EPR-Paradoxons in Mathematik zu übersetzen. Diese nach ihm benannte Bellsche Ungleichung gibt eine Statistik vor, wie die geworfenen Quantenwürfel sich verhalten dürfen, falls sie entweder reine Quantenobjekte im Sinne der Quantentheorie sind oder falls sie doch lokale Zusatzeigenschaften im Sinne Einsteins aufweisen. Dank dieser bahnbrechenden Arbeit von Bell waren damit grundlegende naturphilosophische Fragen zur Quantenphysik experimentell unterscheidbar geworden. Leider starb Bell 1990 kurz nach seiner Nominierung zum Nobelpreis an einer Gehirnblutung.

Es dauerte dann noch einige Jahre, bis sich die Ideen von Bell endlich experimentell überprüfen ließen. Und hier kommen die diesjährigen Preisträger ins Spiel. John Francis Clauser konnte gemeinsam mit Kollegen zunächst die Bellsche Ungleichung so erweitern, dass sie sich klarer experimentell umsetzen ließ. Im Jahr 1974 führte er mit dem mittlerweile verstorbenen Stuart Freedman Experimente durch, die eindeutig auf eine Verletzung der Bellschen Ungleichung hinwiesen und damit Einstein widerlegten.

Alain Aspect entwickelte mit seinem Team die experimentelle Methodik nochmals weiter und konnte 1982 mit überzeugender Signifikanz die von Einstein, Podolsky und Rosen postulierten lokalen verborgenen Parameter ausschließen. Bis heute werden derartige Experimente weitergeführt, um jegliche noch denkbare Möglichkeit – etwa noch völlig unbekannte Kräfte und externe Beeinflussung – auszuschließen. Doch die Ergebnisse von Clauser, Aspect und Kollegen stehen heute auf einem extrem sicheren Fundament.

Anton Zeilinger schließlich hat mit Daniel Greenberger und Michael Horne ebenfalls an einer Weiterentwicklung der Bellschen Ungleichung mitgewirkt, die sich experimentell besonders klar umsetzen lässt. Diese nach den Autoren benannten GHZ-Zustände konnte seine Forschungsgruppe 1999 messen und dabei die Resultate von Clauser und Aspect bestätigen. Medial bekannt geworden ist Zeilinger als »Mr. Beam«, weil sein Team mit Hilfe verschränkter Lichtteilchen Informationen teleportieren konnte. Solche Techniken zur Quantenteleportation (genauer müsste es heißen »Quanteninformationsteleportation«) sind heute Kernstück der modernen Quanteninformationstechnik, wie sie in Quantencomputern und in der Quantenkryptografie zum Einsatz kommt.

Es gibt aber auch eine wichtige geistesgeschichtliche Komponente, die mit der Erforschung der Grundlagen der Quantenphysik zusammenhängt. Abgesehen vom objektiven Zufall und der Verschränkung spielt auch die Unbestimmtheit oder »Unschärfe« eine wichtige Rolle in der Quantenwelt, wie sie durch die Heisenbergsche Unschärferelation ausgedrückt wird. Der Bruch mit dem klassisch-physikalischen Weltbild, demzufolge alles bis ins Kleinste messbar und berechenbar ist und demzufolge sich dann der weitere Verlauf zumindest im Prinzip deterministisch vorherbestimmen lassen sollte, könnte kaum größer sein. Das widersprach einerseits Einsteins Intuition – und dass Einstein hier ausnahmsweise komplett falsch lag, wurde erst Jahrzehnte nach Einsteins Tod durch die Arbeit der diesjährigen Nobel-Laureaten eindeutig bewiesen. Andererseits widerspricht das neue Weltbild der Quantenphysik, wie es vor allem Niels Bohr und Werner Heisenberg in ihrer nach Bohrs Wohnort benannten Kopenhagener Interpretation ausformulierten, auch dem Dialektischen Materialismus, der stark auf einem klassisch-physikalischen Weltbild basiert. Heisenberg und einige osteuropäische Kollegen diskutierten diese Fragen schon ab den 1950er Jahren immer wieder.

Wie sich an diesen rasant wachsenden Technologiegebieten interessanterweise zeigt, ist es oft das gänzlich weltvergessene, von reiner Neugier getriebene Arbeiten an grundlegenden Fragen, das zu großen wissenschaftlich-technischen und damit auch zu gesellschaftlichen Revolutionen führen kann. Es wird in zwanzig Jahren wenige Gebiete in Forschung, Medizin und Hochtechnologie geben, die nicht von diesen Arbeiten in der einen oder anderen Form profitieren werden.

Das Buch »Quanten – Evolution – Geist«
(Springer Spektrum, 2017, 500 S.) des Autors
beleuchtet philosophische Aspekte der
Quantenphysik genauer.

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