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  • Nobelpreis für Medizin und Physiologie 2022

Die Neandertaler und wir

Begründer der Paläogenetik mit Medizinpreis geehrt. Wesentliche Erkenntnisse über die Evolution des Menschen

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die dahingeschiedene DDR hatte bis jetzt wenig mit den Nobelpreisen zu tun. Mit dem diesjährigen Medizin-Nobelpreis dann doch auf Umwegen: Als der Schwede Svante Pääbo in den 80er Jahren Proben von altägyptischen Mumien für seinen Versuch brauchte, sehr altes menschliches Erbmaterial nachzuweisen, wurde er zu Hause in Uppsala und am Ägyptischen Museum in Ostberlin fündig. Und die Ergebnisse seiner Untersuchung erschienen dann zuerst 1984 in der DDR-Fachzeitschrift »Das Altertum«.

Im Westen allerdings nahm man das Ergebnis – den Nachweis antiker DNA in jahrtausendealten Mumien – erst zur Kenntnis genommen, als die Ergebnisse ein Jahr darauf in einem Artikel des britischen Fachjournals »Nature« veröffentlicht wurden. Auch deswegen galt lange der an der University of California Berkeley forschende Allan C. Wilson als Vater der sogenannten Paläogenetik, der Untersuchung von Erbmaterial aus fossilen Proben. Denn Wilson hatte ebenfalls 1984 – aber eben gleich in »Nature« – veröffentlicht, dass er genetisches Material aus über 140 Jahre alten Proben von Quaggas, ausgestorbenen Verwandten der Zebras, isoliert und analysiert hat. Ob Wilson, der bereits 1991 an Leukämie starb, mit Pääbo zusammen geehrt worden wäre, bleibt Spekulation. Pääbo jedenfalls ging nach der Promotion nach Berkeley zu Wilson, um dort weiterzuforschen.

Nobelpreis für Medizin

Svante Pääbo (Jg. 1955), wurde in Stockholm geboren. Nach dem Studium der Ägyptologie und der Medizin promovierte
er in Uppsala. Sein Interesse für ur­altes
Erbgut brachte ihn zu einem Forschungs­aufenthalt in den USA. Zurück in Europa
wurde er nach einer Professur in München
1997 einer der Direktoren am neu gegrün­deten Leipziger Max-Planck-Insti­tut für
evo­lutionäre Anthropologie, wo er heute
noch forscht.

»Die Frage, woher wir kommen und was uns einzigartig macht, beschäftigt die Menschheit von alters her«, schreibt das Nobelkomitee in seiner Begründung für die Vergabe des Preises an Pääbo. Dessen Arbeiten zu den genetischen Unterschieden zwischen modernen Menschen und den ausgestorbenen Verwandten bilden nach Ansicht des Komitees die Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen.

Zu den wesentlichen Forschungsergebnissen Pääbos gehört die Erkenntnis, dass Erbgut-Spuren des Neandertalers noch heute in der DNA des Menschen zu finden sind – die beiden Arten hatten sich in ihrer gemeinsamen Zeit auf der Erde untereinander vermehrt. Ein weiterer Meilenstein seiner Karriere war die Entdeckung des sogenannten Denisova-Menschen, eines anderen ausgestorbenen Verwandten des modernen Homo sapiens. Zu jener Zeit gab es noch eine funktionierende Zusammenarbeit mit russischen Forschungseinrichtungen. Die Denisova-Höhle befindet sich im zu Russland gehörenden Altai-Gebirge.

Die Erbgut-Spuren unserer ausgestorbenen Verwandten beeinflussen bis heute die Gesundheit des Menschen. So gebe es etwa Neandertaler-Gene, die auf die Immunantwort bei verschiedenen Infektionen wirkten, so das Nobelkomitee. Damit erklärt sich auch, dass dieses vermeintlich abwegige Forschungsfeld mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie geehrt wurde. Und Pääbos früherer Doktorand Johannes Krause, heute Direktorenkollege am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, meint, dass sich der medizinische Nutzen dieser Arbeiten in den kommenden Jahren noch erweisen werde. »Dank Svante Pääbos Arbeit kennen wir die Positionen in unserem Genom, die uns zu dem machen, was wir sind: der erfolgreichsten Säugetierspezies des Planeten.«

Pääbo hatte sich bereits frühzeitig mit der Möglichkeit beschäftigt, DNA von Neandertalern zu untersuchen. Die sind allerdings schon vor 40 000 Jahren ausgestorben, somit ist jegliches biologische Material aus Neandertaler-Fundstätten noch etliche Zehntausend Jahre länger dem Zerfall ausgesetzt als die Mumien der alten Ägypter. Und DNA zerfällt im Laufe der Zeit in immer kleinere Bruchstücke. Zudem wurden die Überreste der Neandertaler im Verlaufe der Jahrtausende von verschiedensten Mikroorganismen zersetzt, deren Erbmaterial die Proben verunreinigt.

Pääbos Team gelang es dennoch Mitte der 90er Jahre, einen Teil des Genoms der Mitochondrien von Neandertalern aus alten Knochenfragmenten zu isolieren und zu analysieren. Die Mitochondrien sind die Kraftwerke in tierischen Zellen und werden nur über die Eizellen weitergegeben. Die Unterschiede zur Mitochondrien-DNA des heutigen Homo sapiens waren so groß, dass klar war, die Neandertaler waren keine direkten Vorfahren der heutigen Menschen.

2010 stellte Pääbo eine erste Version des Neandertaler-Genoms aus dem Zellkern vor. Dabei wurden effizientere Extraktionsmethoden, Reinräume ähnlich wie in der Mikroelektronik und eine 2005 neu eingeführte Untersuchungstechnik eingesetzt, das sogenannte Next Generation Sequencing. Computerprogramme, die DNA-Schnipsel des Neandertalers mit solchen von Schimpanse und Homo sapiens abglichen, halfen, 2014 aus den Schnipseln das Genom der Neandertaler fast komplett zu rekonstruieren.

Vergleiche mit dem Erbgut des modernen Menschen zeigten unter anderem, dass bei Menschen mit europäischer oder asiatischer Herkunft etwa 1 bis 4 Prozent des Genoms auf den Neandertaler zurückgehen. Homo sapiens und Homo neandertalensis mussten also Kinder miteinander gezeugt haben – eine bahnbrechende Erkenntnis. Bei Menschen afrikanischer Herkunft hingegen gibt es kaum Übereinstimmungen.

Ähnliches gilt für den Denisova-Menschen: Ein winziges, 40 000 Jahre altes Fingerknochenfragment war 2008 in der Denisova-Höhle in Sibirien gefunden worden. Untersuchungen der daraus gewonnenen DNA zeigten, dass sich diese von der des Menschen und von der des Neandertalers unterschied – Pääbo hatte eine bisher unbekannte Frühmenschen-Form entdeckt.

Damit war zugleich bewiesen, dass die Wiege des modernen Menschen, des Homo sapiens, Afrika war. Zuvor wurde von etlichen Anthropologen noch die Ansicht verteidigt, der Homo sapiens sei auf verschiedenen Kontinenten unabhängig voneinander aus unterschiedlichen früheren Menschenarten entstanden.

Ein Manko der bisherigen paläogenetischen Untersuchungen ist allerdings, dass die besten Proben aus Gebieten mit gemäßigtem bis kühlem Klima kommen. Folgerichtig stammt die älteste bislang sequenzierte DNA von Tieren, die im Permafrostboden konserviert wurden. 2021 stellte ein internationales Forscherteam die Gensequenz aus dem 1,6 Millionen Jahre alten Zahn eines sibirischen Mammuts in »Nature« vor. Um die klimabedingten Lücken – vor allem in Afrika – zu schließen, wird weltweit nach Verfahren gesucht, um die in warmem und feuchtem Klima stärker zersetzte DNA untersuchen zu können.

Pääbo ist nicht der erste Nobelpreisträger in seiner Familie: Sein Vater Sune Bergström erhielt die Auszeichnung 1982 gemeinsam mit zwei weiteren Wissenschaftlern, ebenfalls in der Kategorie Medizin. Ob ihn dies oder die Bekanntschaft mit anderen herausragenden Forschern in seiner Arbeit beeinflusst habe, fragte das Nobelkomitee den frisch Gekürten. »Ich habe realisiert, dass auch diese Menschen normale menschliche Wesen sind und dass das alles nicht so eine riesige Sache ist«, antwortete der 67-Jährige, selbst Vater von zwei Kindern.

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