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Jan Valtins »Tagebuch der Hölle«: Erfundene Erinnerungen

Die Neuauflage von Jan Valtins »Tagebuch der Hölle« erzählt die Geschichte vom Scheitern der Komintern – ohne es mit den Fakten zu genau zu nehmen

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Der Hamburger Hafen, 1924: Ein Jahr zuvor nahm Jan Valtin hier am Hamburger Matrosenaufstand teil und bereiste als agitierender Seemann die Weltmeere.
Der Hamburger Hafen, 1924: Ein Jahr zuvor nahm Jan Valtin hier am Hamburger Matrosenaufstand teil und bereiste als agitierender Seemann die Weltmeere.

»Ich war klassenbewusst, weil Klassenbewusstsein bei uns zur Familie gehörte. Ich war stolz darauf, ein Arbeiter zu sein, und ich verachtete den Bourgeois«, schreibt der Seemann, Bestsellerautor und Doppelagent Richard Krebs alias Jan Valtin. »Polizisten waren Feinde. Gott war eine Lüge, von den Reichen erfunden, um die Armen mit ihrem Los zu versöhnen, nur Feiglinge nahmen Zuflucht zum Gebet.« So steht es in Valtins »Tagebuch der Hölle«, das vom »Zeitalter der Extreme« berichtet, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte. Es ist eine Schilderung der Geschichte der Komintern, erzählt von einem Fußsoldaten der Weltrevolution, der gegenüber seinem Zentralkomitee und der Moskauer Zentrale lange Zeit bedingungslos gehorsam ist.  

Kontextlose Authentizität

»Große Schlachten stehen bevor«, sagt ein Genosse Anfang der 1920er Jahre. Die Partei müsse die bewaffnete Erhebung vorbereiten. »Wir wollen nicht wieder verlieren. Sowjetdeutschland und Sowjetrussland werden zusammen unüberwindlich sein.« Derselbe Mann, so der Erzähler, wird später einer der fähigsten Mitarbeiter der Auslandsabteilung der GPU, der Gossudarstwennoje Polititscheskoje Uprawlenije, Stalins Geheimpolizei. Und: »Treu bis zum Schluss beging er 1937 Selbstmord in einem Nazigefängnis.« Erzählt wird in Valtins »Tagebuch« nicht zuletzt die Geschichte von der Selbstzerstörung der kommunistischen Bewegung, die ihren Hauptfeind zuallererst in der Sozialdemokratie sah, sich an der Demontage der Weimarer Demokratie aktiv beteiligte und so Hitlers Aufstieg den Weg bereitete.

Erzählt wird in Valtins »Tagebuch« nicht zuletzt die Geschichte von der Selbstzerstörung der kommunistischen Bewegung.

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So beeindruckend dieser historische Bericht aus nächster Nähe auf den ersten Blick wirken mag, so schnell wird klar: Dem Buch fehlt ein Vorwort, das wenigstens versucht, den Inhalt in den richtigen historischen Kontext zu setzen und den Erkenntnisgewinn in seiner Zeit zu bewerten. Es bräuchte eine Einleitung, die am besten Ernst von Waldenfels hätte schreiben sollen, jener Autor, der 2002 im Aufbau-Verlag eine Biografie über Richard Krebs vorgelegt hat. Krebs hatte 1941 in den USA unter dem Pseudonym Jan Valtin »Out of the Night« veröffentlicht – eine angebliche Autobiografie, die auf jeder Seite absolute Authentizität behauptete. In der »Taz« schrieb von Waldenfels über dieses Buch: »Es war ein Bericht seiner Vergangenheit als Seemann und kommunistischer Funktionär, seiner späteren Inhaftierung und Folterung in den KZ und Gefängnissen Nazideutschlands. Krebs alias Valtin bestritt gar nicht, für die Gestapo tätig gewesen zu sein, beharrte jedoch darauf, dies sei auf Veranlassung des sowjetischen Geheimdienstes GPU geschehen.«

Ein solches Vorwort oder Proömium hätte helfen können bei der Frage, was das Buch denn sein soll: Ein Tagebuch schon einmal nicht, einem Roman aber fehlt der Plot. Andererseits erfindet Jan Valtin eben mal schnell für das Jahr 1934 das KZ Worpswede, in dem mehr als die Hälfte der Insassen in Ungnade gefallene SA-Leute gewesen sein sollen (vielleicht ja infolge des sogenannten Röhm-Putsches). In der Neuausgabe berichtet der Autor von bizarren Begegnungen hinterm Stacheldraht: »Nachts sprach ich in einer überfüllten Baracke mit einigen von diesen SA-Leuten. Sie stellten das radikalste und brutalste Element der ganzen Hitlerbewegung dar. Wegen Plünderungen von Geschäften und anderer Verstöße gegen die Disziplin war schließlich die Schutzhaft über sie verhängt worden.«

Bestseller oder historische Quelle?

»Out of the Night« hielt sich 1941 das ganze Jahr an der Spitze der US-Bestsellerlisten; laut Handbuch der Deutschen Kommunisten wurden über eine Million Exemplare verkauft. Ende desselben Jahres sollten die USA nach dem japanischen Luftangriff auf Pearl Harbor in den Zweiten Weltkrieg eintreten. Und offensichtlich gab es seinerzeit in den Staaten ein enormes Interesse an Geschichten aus und über Nazideutschland. Anna Seghers Roman »Das siebte Kreuz« wurde in etlichen Zeitungen der US-Presse abgedruckt. Die Fluchtgeschichte von sieben Häftlingen aus dem Konzentrationslager, von denen einer durchkommt, erreichte noch während des Krieges 20 Millionen Leserinnen und Leser. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete das Werk der kommunistischen Schriftstellerin als den bedeutendsten deutschen Roman über das Leben während der Nazizeit. Und Jan Valtin respektive Richard Krebs?

Erfundene Erinnerungen sind noch keine Literatur. Ohne Zweifel hat dieser Autor Erfahrungen machen müssen, die die Menschen heute, zumindest im Westen, nur vom Hörensagen kennen, Gott sei Dank. Der Kommunist Richard Krebs, davon ist auszugehen, wurde von der Gestapo auf schlimmste Weise gefoltert. Ein Genickschuss, schreibt er, wäre ein unerwartetes Paradies gewesen. »Wenn ich nur diese eine Nacht durchhielt, so würden die Genossen draußen Zeit haben, ihren Aufenthaltsort, ihre Treffpunkte und ihre Depots zu ändern. Sie würden ihre Verbindungslinien ändern, ihre Schlüssel und sogar ihre Namen.«

Der Historiker Udo Grashof sieht in dem Buch eine wichtige historische Quelle. Der außerplanmäßige Professor an der Universität Leipzig zitiert in seiner Studie »Gefahr von innen. Verrat im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus« eine besondere Stelle aus Valtins/Krebs’ Buch, die von den ersten Tagen der Nazi-Diktatur erzählt, von der Lawine an Denunziationen. Nazi-Spitzel, die seit Jahren in den kommunistischen Reihen operiert hätten, seien jetzt in Autos verladen und zusammen mit den Gestapo-Kommandos losgeschickt worden. »Von früh bis spät und die ganze Nacht hindurch fuhren diese Fahrzeuge kreuz und quer durch die Stadt. Jedes Mal, wenn der Spitzel einen ihm bekannten Kommunisten auf der Straße sah, stoppte der Wagen und der Genosse war verhaftet.« In einer Stadt wie Hamburg, die mehr als 100 000 kommunistische Anhänger zählte, habe diese Taktik verheerende Wirkung gezeigt. Ein einziger Spitzel sei damals für die Verhaftung von 800 Kommunisten und ihrer Familien verantwortlich gewesen.

Personenpanorama

Was aber, wenn der Erzähler selbst ein Denunziant ist? Valtin benennt sein Personal teilweise mit ihren Klarnamen. Hans Kippenberger zum Beispiel, Chef des KPD-Nachrichtendienstes, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits in der Sowjetunion erschossen worden. Andere Kommunisten lebten im Exil, etwa Arthur Ewert (1890–1959), Thälmanns früherer Gegenspieler an der KPD-Spitze. Jan Valtin aka Richard Krebs scheint es egal gewesen zu sein, dass diese Menschen vielleicht noch in der Illegalität waren oder in Haft, ob nun bei Hitler oder Stalin. Seinen Bericht zu Struktur und Arbeit der »Geheimorganisation kommunistischer Gefangener« im Hamburger Zuchthaus werden 1941 nicht nur US-amerikanische Leser verfolgt haben, womöglich auch die Gestapo in Deutschland.  

Der Verlag Bahoe Books, der dieses »herzzerreißende Epos« noch einmal neu verlegt, aber in alter Übersetzung aus dem Jahr 1957, spricht euphemistisch von einer Geschichte »in autobiografischen Zügen«. Autobiografisch geprägt mag das Frauenbild des Ich-Erzählers sein. In diesem Buch tragen die Frauen fast alle nur Vornamen und sind – da ist der Autor ganz Kind seiner Zeit – meist auf schlüpfrige Nebenrollen reduziert. Leseprobe: »Dann telefonierte Fritz Heckert nach seiner Sekretärin Liselotte, einem mageren, dunkelhaarigen Mädchen, das gleichzeitig seine Bettgenossin war …« An anderer Stelle wird eine Frau als »dralle belgische Mähre« beschrieben, wieder einer anderen »Arme waren unter ihren schweren Brüsten verschränkt«. Solche Sätze zeigen, wie wichtig die Recherchen einer Regina Scheer sind, die in ihren Büchern die Persönlichkeiten der Frauen der Komintern erlebbar macht: Kommunistinnen wie Hertha Gordon-Walcher.

Ob nun die Begegnungen des Erzählers mit den Spitzen der KPD und der Komintern die erwähnten autobiografischen Züge tragen, sei dahingestellt. Thälmann, der frühere Transportarbeiter, sei »ein plumper Mann mit fleischigem Gesicht« gewesen, mit »groben Manieren«, ein Opfer der Gewohnheit, »Tischplatten mit seinen Vorschlagfäusten zu bearbeiten«, wie Valtin schreibt. Für Arthur Ewert sei »Teddy« Thälmann nur ein »holzköpfiger Zelot« gewesen, der die stärkste kommunistische Partei außerhalb Russlands leite. »Ein Feldwebel, der eine Partei leitet, von der das Schicksal der Weltrevolution abhängt!«

Dieser »Feldwebel« hat für seine Irrtümer bitter bezahlt. Und was den ehemaligen KPD-Reichstagsabgeordneten Arthur Ewert betrifft, ist dessen Leben eine eigene Geschichte, im Übrigen großartig erzählt von Ronald Friedmann in »Arthur Ewert. Revolutionär auf drei Kontinenten« aus dem Karl-Dietz-Verlag.

Bei seiner ersten Begegnung mit Georgi Dimitroff, dem späteren Angeklagten im Reichstagsbrandprozess und noch späteren Generalsekretär der Komintern, zeigt sich der Erzähler enttäuscht. Er hatte erwartet, »einen stählernen Mann und einen harten Veteranen vieler Kampagnen zu treffen. Stattdessen erschien aus einem dahintergelegenen Büro ein großer sanfter Mann mit weichem Gesicht, kräftig und dunkel, angezogen wie ein Dandy und nach starkem Parfüm riechend. Er trug einen schweren Ring an der linken Hand.« Genau genommen ist das ganze Buch eine Abrechnung mit dem späteren Stasi-Chef Ernst Wollweber, einem Trinker und Prahlhans, ohne Sinn für Realitäten: »Mit der Liquidation der ›Sozial-Faschisten‹ bereiten wir den Boden für den Bürgerkrieg vor. Wir werden dann Hitler unsere Antwort auf den Barrikaden erteilen.«

Überaus problematisch aber lesen sich Valtins Erinnerungen an Etkar André, der Name leicht verfremdet: Edgar Andree, »ein mächtiger, sechs Fuß hoher Kerl, mit leicht jüdischem Aussehen«. Der Chef des Rotfrontkämpferbundes Wasserkante und langjährige KPD-Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft wurde am 4. November 1936 von den Nazis hingerichtet. Sein ehemaliger Genosse Richard Krebs berichtet, er sei ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug gewesen. »Als Andree die Schritte der Helfer des Henkers bei Tagesanbruch kommen hörte, bat er einen der SS-Leute, einen Witz zu erzählen.« Der Genosse wollte noch einmal lachen. Doch die SS-Leute kannten keinen Witz, »aber ein Nazianwalt unter den Anwesenden erbot sich, Andree zum Lachen zu bringen. Er erzählte einen Judenwitz. Andree selbst war Belgier jüdischer Herkunft … Alle lachten, Andree am lautesten.« Die Freude war sicher auch groß, als der Autor dieses Buches 1947 endlich die US-Staatsbürgerschaft erhielt.

Jan Valtin: Tagebuch der Hölle. Bahoe Books 2024, 786 S., geb., 28 €.

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