Gesetze statt Pflaster

Auf dem diesjährigen Pflegetag wurde die Diskrepanz zwischen Machtpolitik und Realität einmal mehr deutlich

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.

Christine Vogler war nicht gewillt, die Harmonieofferte des Bundesgesundheitsministers anzunehmen. Bei ihrem Auftritt beim Deutschen Pflegetag Ende vergangener Woche in Berlin kritisierte die Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR) den anwesenden Karl Lauterbach (SPD) scharf. »Wir brauchen keine Pflaster, wir brauchen Gesetze«, sagte Vogler unter lautem Applaus in dessen Richtung. Zuvor hatte Lauterbach in seiner Grußbotschaft zwar darauf verwiesen, das Pflegeentlastungsgesetz weiter auf den Weg bringen zu wollen.

Ansonsten aber versuchte er sich lediglich mit weitgehend leeren Floskeln bei den etwa 500 Vertreterinnen und Vertretern der Pflege im Saal lieb Kind zu machen. Auf die vermeintliche Klage der Pflegenden, ihre Arbeit würde nicht ausreichend anerkannt, antwortete er beispielsweise: »Klar wird die Arbeit in der Pflege zu schlecht bezahlt, doch sie wird in der breiten Öffentlichkeit anerkannt als Säule einer solidarischen Gesellschaft, die die Schwächsten nicht im Stich lässt.«

Wie sehr der Minister mit solchen Aussagen zudem das beherrschende Thema auf dem diesjährigen Pflegetag verfehlte, machte Pflegeratspräsidentin Vogler daraufhin in ihrer Rede deutlich. Um die Anerkennung müsse man sich nicht sorgen, sagte sie. Vielmehr fehle es fast überall an Personal – »und das nicht nur bei den Pflegekräften, sondern auch bei den Ausbildenden und Lehrenden«, sagte sie. Die Pflege brauche dringend Unterstützung vom Gesetzgeber, aber auch von den Gewerkschaften, »sonst wird sie bald nicht mehr stattfinden«.

Den warmen Worten Lauterbachs entgegnete Vogler umso drastischere Warnungen: »Dann werden Krebskranke auf ihre Behandlung warten und Menschen werden verhungern. Und am Ende bleibt alles wieder bei den Frauen hängen.« Die professionelle Pflege sei in Deutschland auf dem Stand der Emanzipation von 1900, ließ Vogler mit ihrer Kritik nicht nach.

Klar ist, dass Pflegenotstand und Fachkräftemangel hierzulande schon längst Realität sind. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaft (IW) fehlen bereits jetzt 200 000 Pflegekräfte; und diese Zahl wird bis 2030 auf eine halbe Million klettern. Pfleger und Pflegerinnen aus Vietnam, den Balkanländern oder Lateinamerika sollen dieses Versorgungsproblem lösen, nur wird das allein nicht reichen. Der deutsche Pflegerat fordert von der Bundesregierung umfassende Maßnahmen. Vogler fasste diese in drei Punkten zusammen: mehr Befugnisse für die Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen und eine starke Pflegewissenschaft.

Zu Punkt eins erläuterte sie, dass es dabei nicht um ärztliche Kompetenzen für Pflegende gehe, sondern um mehr Mitbestimmung und Selbstverwaltung im Allgemeinen. Dazu müsste es endlich möglich gemacht werden, eine Kammerstruktur in Form von Pflegekammern einzuführen, so Vogler. Außerdem müsse das allgemeine Heilberufegesetz endlich umgesetzt werden, wie es auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien steht. »In diesen Punkten werden in der Pflege in Deutschland internationale Standards nach den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation nicht eingehalten«, machte Vogler klar.

Zu den Arbeitsbedingungen sagte sie, dass im Alltag die Verletzung des pflegefachlichen Anspruchs kaum noch hinterfragt werde. »Die Pflegenden lernen, diese Verletzungen als Normalfall anzusehen und stehen damit auch unter einem ständigen moralischen Stress.« Eine, die das so nicht hinnehmen will, ist die 34-jährige Martina Götschel. Die Heilerziehungspflegerin arbeitet seit zehn Jahren im Kinderhospiz »Sonnenhof« in Berlin und betreute auf dem Pflegetag einen Stand zur sogenannten Basalen Stimulation, die die Pflegequalität wieder steigern soll. »Wenn der oder die Pflegende im Stress ist, ist er oder sie immer mehr bei sich als beim Patienten. Und das ist letztlich für beide fatal«, sagt sie.

Zudem hätten die Menschen gerade in der Corona-Pandemie gemerkt, wie wichtig Berührung sei, ist sich Götschel sicher. Sie kritisiert und unterfüttert das, was Vogler die »Verletzung des pflegefachlichen Anspruchs« nennt. »Pflege ist nicht hauptsächlich eine kognitive, sondern eine emotionale Tätigkeit. Das funktioniert aber nicht, wenn man den Patienten zum Beispiel mit drei Paar Handschuhen auf die Pelle rückt«, so die Heilerziehungspflegerin.

Pflegeratspräsidentin Vogler ließ es sich derweil auf dem Podium nicht nehmen, noch einen Seitenhieb auf Lauterbachs Ministerkollegen Christian Lindner (FDP) auszuteilen. »Eine Regierung wird ja dafür gewählt, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und das hieße ja wohl, das Gesundheitswesen für die Menschen zu sichern. Doch dafür hat bei der Personalbemessung in der Pflege hier das Finanzministerium viel zu viel Mitsprache«, sagte sie.

Bevor Gesundheitsminister Lauterbach dann in seine Limousine stieg, die ihn schleunigst wieder vom Kongressgelände der Berliner Messe entfernte, gab ihm Vogler vom Podium aus noch mit auf den Weg: »An ihren Taten wirst du sie erkennen. Das gesprochene Wort hat keinerlei Bedeutung mehr, sondern nur noch das geschriebene, in ein Gesetz gegossene.«

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