Real bremst »Xavineta« aus

Nach der Niederlage im Clásico kommt der Neuaufbau beim FC Barcelona ins Stocken

  • Martin Ling, Madrid
  • Lesedauer: 6 Min.

Spottgesänge können inhaltlich treffend sein: »Dónde está la Xavineta, la Xavineta dónde está?« (Wo ist das Zukunftsprojekt von Xavi, wo ist es geblieben?) Was Fans von Real Madrid den wie üblich aus Sicherheitsgründen mit Verspätung aus ihrem Block abziehenden Gästefans aus Barcelona mit auf den Nachhauseweg gaben, war die Frage, die sich rund um den FC Barcelona derzeit alle stellen: Wie geht es nach den derben Rückschlägen von Mittwoch und Sonntag weiter mit der »Xavineta«, dem nach dem Trainer Xavi benannten Neuaufbau des Vereins im zweiten Jahr nach dem Abgang von Lionel Messi, des erfolgreichsten Spielers der Vereinsgeschichte (778 Spiele, 672 Tore, 35 Titel)? Messis Debüt war just genau 18 Jahre vor dem Clásico vom Sonntag am 16.10.2004.

Nach dem 3:3-Unentschieden am Mittwoch gegen Inter Mailand sind die Aussichten auf ein Weiterkommen in der Champions League ins Achtelfinale im Frühjahr 2023 schon vor den letzten zwei Gruppenspielen nur noch theoretischer Natur. Auf mehr als 20 Millionen Euro entgehende Einnahmen wird der Schaden geschätzt, was dem mit 1,3 Milliarden Euro verschuldeten Klub alles andere als gelegen kommt.

Die verdiente 1:3-Niederlage im Clásico ist da fürs Erste sportlich und finanziell leichter zu verkraften, sollte die Negativdynamik gebrochen werden können, was Trainer Xavi, nach Messi Rekordspieler mit 767 Einsätzen, nach dem Clásico zur Zielvorgabe erklärte: »Letztendlich geht es darum, die Dynamik zu verändern, ich kenne keinen anderen Weg, um mit dem Neustart zu beginnen. Die Saison geht weiter, ist noch lang und es sind nur drei Punkte«, relativierte er die Bedeutung der Niederlage gegen den Erzrivalen Real Madrid. Das gilt aber nur, wenn die sichtlich moralisch angeschlagene Mannschaft schon am Donnerstag und Sonntag bei den Heimspielen gegen Villarreal und Athletic Bilbao wieder in die Erfolgsspur findet.

Im 185. Clásico der Geschichte hatte Barcelona wie üblich mehr Ballbesitz, auf den Real Madrid keinen gesteigerten Wert legt. Stattdessen setzen die Madrilenen darauf, wenige Konter zielstrebig zu setzen. So auch dieses Mal, in der 12. Minute setzte sich der alternde, aber überragende deutsche Ex-Nationalspieler Toni Kroos gegen den 34-jährigen Noch-Nationalspieler Spaniens Sergio Busquets im Mittelfeld durch, spielte einen Pass in die Schnittstelle auf den pfeilschnellen Linksaußen Vinicius, der allein vor dem deutschen Nationaltorhüter Marc-André ter Stegen scheiterte, aber der Nachschuss von Karim Benzema saß. In Madrid pfiffen es die Spatzen von den Dächern, dass Benzema am 17. Oktober in Paris mit dem Ballon d’Or 2022 ausgezeichnet wird, dem Preis für den Weltfußballer des Jahres. Und auch das 2:0 fiel nach ähnlichem Strickmuster: Ein langer Ball in die Spitze wurde von Innenverteidiger Eric García ungewollt zu Vinicius abgefälscht und landete wenige Stationen später beim uruguayischen Rechtsaußen Federico Valverde, der aus 18 Metern mit einem platzierten Flachschuss ter Stegen keine Chance ließ.

Das Aufbäumen gegen die Niederlage seitens von Barcelona hielt sich in Grenzen. Erst mit der Einwechslung des 19-jährigen Rekonvaleszenten Ansu Fati in der 73. Minute, der über 18 Monate mit einer Knieverletzung ausgefallen war, nahm Barça Fahrt auf. Zuerst verfehlt er mit einem Weitschuss knapp, in der 81. Minute bereitete Fati mit einem Solo den Anschlusstreffer vom ebenfalls eingewechselten Ferran Torres vor, und kurz darauf wäre ihm mit einem Seitfallzieher sogar fast noch der Ausgleich geglückt. Fati war in seinem Kurzeinsatz gefährlicher als alle anderen Stürmer zusammen. Robert Lewandowski ließ in der ersten Hälfte eine Chance aus Nahdistanz liegen und ging bei seiner auffälligsten Szene in der zweiten Hälfte im Strafraum zu Boden, nachdem er von Fati freigespielt und vom Real Verteidiger Carvajal gecheckt wurde. Der Elfmeterpfiff blieb aus. Nicht so in der Nachspielzeit auf der anderen Seite, als der Schiedsrichterassistent VAR eingriff und der Schiedsrichter nach Ansicht der TV-Bilder auf Elfmeter entschied, bei Lewandowski wurde dem Schiedsrichter vom VAR der Gang zum Bildschirm erspart. Der gefoulte Einwechselspieler Rodrygo verwandelte zum 3:1 und zum unterm Strich eindeutig verdienten Sieg.

Just gegen Real Madrid feierte Xavi, der im November 2021 mitten in der Vorsaison sein Amt beim kriselnden Klub antrat, seinen bisher größten Erfolg. Am 20. März dieses Jahres triumphierte Barça im Bernabéu mit sage und schreibe 4:0. Die »Xavineta« schien so richtig in Fahrt zu kommen. Der erste große Dämpfer war das Ausscheiden im Viertelfinale der Europa League gegen den späteren Sieger Eintracht Frankfurt wenige Wochen danach, als sich beim entscheidenden 3:2 im Rückspiel im Camp Nou aufgrund laxer Ticketvergabepraxis über 30 000 Frankfurter Fans Zugang ins Stadion verschafft hatten und für ihr Team für eine Heimspielatmosphäre sorgten. Die erste Saison nach Messi blieb titellos, aber die Vizemeisterschaft und damit die finanziell extrem wichtige Qualifikation für die Champions League rettete die Saison. Xavi hatte die Mannschaft nach zehn Saisonspielen auf dem neunten Platz übernommen.

Für die aktuelle Saison wurde die Messlatte deutlich höher gelegt. Mindestens ein Titel und eine auch in der Champions League wieder wettbewerbsfähige Mannschaft wurden als Zielsetzung ausgegeben. Xavi bekam von Präsident Joan Laporta, der selbst erst im März 2021 seine zweite Amtszeit nach 2003–2010 angetreten hatte, nahezu alle Wünsche erfüllt: Der hoch verschuldete Klub machte rund 150 Millionen Euro locker, um mit Frankreichs Nationalspieler Jules Koundé, Brasiliens Nationalspieler Raphinha und dem polnischen Weltstar Robert Lewandowski auf dem Spielfeld und auch marketingmäßig aufzurüsten. Der 34-jährige Lewandowski soll, was Tore, aber auch, was Trikot-Verkäufe und Zuschauer-ins-Stadion-locken angeht, wenigstens halbwegs in die Fußstapfen von Messi treten. Neun Tore in neun Liga-Spielen, fünf Tore in vier Champions League-Spielen, Lewandowski liegt im Gegensatz zu Barça im Plan, da das nicht kalkulierte Aus in der Champions League so gut wie sicher ist. Der Zuschauerschnitt ist diese Saison auf über 83 000 Zuschauer gestiegen, vergangene Saison, die anfangs noch unter Corona-Einschränkungen stattfand, waren es nur rund 55 000 Zuschauer.

Die Frage, wie sich der Verein mit 1,3 Milliarden Schulden für 150 Millionen Euro neue Spieler kaufen kann, ist einfach zu beantworten: Barcelona hat nach Angaben des Präsidenten Laporta 868 Millionen Euro durch den Verkauf von Tafelsilber eingenommen, nicht irgendwelche Pokale aus dem Trophäenschrank, sondern unter anderem 35 Prozent Anteil an den Einnahmen aus den Fernsehrechten für die kommenden 25 Jahre wurden vorab zu Cash gemacht, der dann später nicht noch mal in die Kassen fließt. Es ist eine riskante Strategie. Laporta hat die Mannschaft auf Pump verstärkt und eine große Euphorie zu Saisonbeginn ausgelöst. Nach den bitteren Rückschlägen gegen Inter Mailand und Real Madrid ist die fürs Erste verpufft.

In den kommenden drei Heimspielen gegen Villarreal, Bilbao und im vielleicht schon nicht mehr fürs Weiterkommen relevanten Spiel gegen Bayern München am 26. Oktober – Konkurrent Inter spielt direkt davor – wird sich zeigen, ob die Zuschauer weiter in Massen strömen oder schon desillusioniert sind. Die Ergebnisse werden zeigen, ob die Xavineta wieder die Kurve kriegt. Derzeit steckt sie fest.

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