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  • Serie "Hinter dem Abgrund"

Dageblieben

In dem Doku-Vierteiler »Hinter dem Abgrund« erzählen Menschen aus der Lausitz vom Leben mitten im Strukturwandel

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Elisa Marusch ist eine der Umsiedler*innen. Sie hat ihr Heimatdorf Mühlrose verlassen. Seit Anfang des Jahres lebt sie acht Kilometer entfernt in einem Holzhaus im Farmerstil.
Elisa Marusch ist eine der Umsiedler*innen. Sie hat ihr Heimatdorf Mühlrose verlassen. Seit Anfang des Jahres lebt sie acht Kilometer entfernt in einem Holzhaus im Farmerstil.

Wasser. Fluch und Segen, Starkregen und Badespaß, Flutkatastrophe und Lebensquell: zu viel davon ist tödlich, zu wenig auch. Seit Anbeginn der Zeit sorgt Wasser gleichermaßen für Verdruss und Freude. Nur selten aber liegen beide sich näher als dort, wo Oder und Neiße Polen von Deutschland trennen: in der Lausitz. Oder wie das sorbische Łuža die Gegend umschreibt: als »sumpfige Wiese«.

Klingt feucht, war feucht, ist aber trocken, zu trocken – das »Kohlerevier des Ostens«, wie es die Rasierwasserwerbungsstimme aus dem Off der vierteiligen Doku-Reise mit dem Titel »Hinter dem Abgrund« umschreibt. Schließlich wurden die 13 000 Quadratkilometer zwischen Südbrandenburg und Ostsachsen jahrzehntelang ausgedörrt: erst von unten, um den Tagebau vorm Grundwasser zu schützen. Später von oben, weil die Braunkohle den Klimawandel so anheizt, dass es kaum noch regnet. Und mittendrin: eine Million Bewohner, von denen »Hinter dem Abgrund« erzählt.

Regisseur Lutz Pehnert, dank Porträts ostdeutscher Matrosen und Ganoven, Bettina Wegners und Karl Mays ein Experte heimatverbundener Betrachtungen, lässt nämlich nur echte Menschen zu Wort kommen, Persönlichkeiten voller Geschichte(n): Lokalpolitiker und Heimatköniginnen, Eishockey-Ultras oder Drachenboot-Kapitäne, Unternehmer und Architektinnen, Umgesiedelte oder Zurückgekehrte, die dem Ostberliner frei vom Abstiegstonfall vergleichbarer Provinzvisiten drei Stunden lang das Dasein mit, neben, nach der Kohle schildern.

Da Pehnert findet, statt zu suchen, macht er mit dem Untertitel »Leben in der Lausitz« also keine dieser handelsüblichen Untergangsdokumentationen, sobald es um die fünf schon recht alten neuen Länder geht. Es wird gemotzt, natürlich. Strukturschwache Gegenden wie diese bieten dafür auch reichlich Anlass. Es klingt allerdings weder larmoyant noch seifig, wenn seine Protagonisten ihre Situation am Rande einer desinteressierten Republik monieren. Im Angesicht rechter Parteien, die hier erfolgreich auf Stimmenfang gehen, ist das bemerkenswert.

Während der fiktionale ARD-Sechsteiler »Lauchhammer«, der ebenfalls in der Mediathek abrufbar ist, die Region zum Tatort einer grimmigen Landbevölkerung macht, der das Ende ihrer »guten alten« Kohlezeit kollektiv die Stimmung verhagelt, blicken die echten Bewohner der Lausitz weitaus wohlmeinender aufs Morgen als das Gestern und sind damit neutraler. Ein bisschen wie Wasser, sozusagen. Das nämlich umspült hier alle längst mehr als die Kohle.

Manfred Heine, seit 1996 Bürgermeister der sächsischen Gemeinde Spreetal, beklagt beim kamerabegleiteten Rundgang durch seine sieben Ortsteile zwar sachkundig die Probleme zurücksickernden Grundwassers. Noch lieber jedoch lobt er die Stressresilienz der Nachbarn, denen es das Haus unterspült. Sozialassistentin Elisa Marusch mögen nahende Bagger einst gewaltsam aus ihrem Heimatdorf Mühlrose in die sechs Kilometer entfernte Siedlung mit »Neu« davor verjagt haben; bei ihrer kleinen Hausführung schwärmt sie vom frischen Komfort des unfreiwilligen Exils.

Wer den Lebenden hinterm Abgrund zuhört, kann sich damit ein ungeahntes Bild der auserzählten Einöde am Grenzfluss montieren: Anders als die AfD konstruiert, trauern höchstens unmittelbar Betroffene wie der Grubenarbeiter Roland Erb der Vergangenheit – und dann auch eher zaghaft – nach. Das Gros der Menschen bewertet die Verheerungen der Braunkohle dagegen nüchtern und wartet unvoreingenommen auf 40 Milliarden Euro Fördermittel zur grundsätzlichen Neugestaltung ihrer rasant gewandelten Heimat.

Dieser Gelassenheit bei aller Entbehrung, aller Arbeitslosigkeit, aller Strukturschwäche vier Teile lang ohne Off-Kommentare und suggestive Musik beizuwohnen, ist ein Stück öffentlich-rechtlicher Aufklärung zum Gernhaben. Dort, so sagt es jemand mit Blick auf qualmende Schlote einer Industrie, die der Lausitz Himmel und Hölle auf Erden bescherte, »wo Heimat nie selbstverständlich war, sondern eine Entscheidung von Kommen, Bleiben, Gehen«.

Jene Lausitzer, denen wir dabei zusehen, wohnt etwas inne, das auch dem Rest dieses irritierten Landes Orientierung geben könnte. Man sei hier nämlich nicht nur direkter, ehrlicher, offener, wie es der eishockeyversessene Rapper Felix alias Maniac an der Seite seines Hip-Hop-Kollegen Richard alias Miso.029 ausdrückt, »sondern irgendwie«, er lacht verlegen, »kerniger«. Dann erzählt der junge Mann von Rekultivierung und Wiederaufforstung, von Badeseen und Musikfestivals, von der Chance auf Kindheiten ohne Erdrutsche und Sperrzonen. »Sonst würde es hier noch wesentlich dunkler aussehen«, sagt er und macht den Kampf für wie gegen das Wasser damit zur Einstellungssache. Seine ist offenbar intakt. Liegt wohl auch an der Lausitz.

Verfügbar in der ARD-Mediathek.

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