Er hat schon wieder nicht gebohrt

Mit der Zahngesundheit geht es in Deutschland immer noch sehr langsam voran

Neunjähriger beim Zahnarzt: Hier scheint noch alles in Ordnung.
Neunjähriger beim Zahnarzt: Hier scheint noch alles in Ordnung.

Ganz langsam ändert sich offenbar etwas in der Zahnmedizin: Vorbeugen wird Schritt für Schritt wichtiger als Reparieren. Bei der Vorstellung des Zahnreports der Krankenkasse Barmer in der letzten Woche hielt sich Vorstand Christoph Straub mit einem solch positiven Fazit noch zurück: »Die Zahnmedizin zielt weiterhin eher auf die Therapie als auf die Vorbeugung ab.« Viele Zahnerkrankungen seien vermeidbar, erklärte Straub, Zahnarztpraxen sollten entsprechend die Prophylaxe ausbauen. Für den Report mit den ambivalenten Schlussfolgerungen wurden Behandlungsdaten von Versicherten aus den Jahren 2012 bis 2020 analysiert.

Die Ergebnisse der Untersuchung sind zwar nicht durchgängig optimistisch, weisen aber auf eine Entwicklung hin. Denn Zahnarztpatienten kamen zuletzt im Schnitt etwas länger ohne invasive Behandlungen aus, also ohne Füllungen, Wurzelbehandlungen oder neue Kronen. Insbesondere jüngere Menschen scheinen in der Tendenz bessere Zähne zu haben. So kam die Gruppe der 20-Jährigen im Jahr 2020 durchschnittlich auf 4,4 Jahre am Bohrer vorbei und musste auch keine anderen Eingriffe erleben. Im Vergleich zu 2012 ist das ein Zuwachs von einem halben Jahr. Gut ein Viertel der Altersgruppe brauchte in dem Zeitraum zwischen 2012 und 2020 gar keine invasive Behandlung der Zähne.

Auch bei den 40-Jährigen verlängerte sich die Zeitspanne ohne zahnärztliche Eingriffe um drei Monate auf 1,9 Jahre. Aber nur elf Prozent der 40-Jährigen ließen von 2012 bis 2020 gar keine invasiven Behandlungen vornehmen. Bei der dritten betrachteten Gruppe, den 60-Jährigen, stieg die durchschnittliche therapiefreie Zeit nur um gut einen Monat auf 1,6 Jahre. Die Zahlen der Älteren sind demnach auch eher enttäuschend.

Über die Ursachen der Entwicklung gab es bei der Vorstellung des Reports kaum genauere Auskünfte, sie sind den Behandlungsdaten der Kasse auch nicht zu entnehmen. Allerdings gibt es einige Hinweise: Zahnärzte berichten, dass unter anderem wegen der verbreiteten Inanspruchnahme von kieferorthopädischen Leistungen im Jugendalter die Zähne »immer besser werden«. In den Daten der Barmer steigt jedoch diese Inanspruchnahme kaum an, die Ausgaben je Fall stiegen von 346 Euro im Jahr 2013 auf durchschnittlich 407 Euro im Jahr 2020, jeweils ohne Eigenanteil.

Die große, regelmäßig wiederholte Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) erbrachte 2018 aber unter anderem, dass 55 Prozent der Mädchen im Alter von 13 Jahren und die Hälfte der Jungen im Alter von 14 Jahren in dieser Hinsicht behandelt werden, was in einer Vielzahl der Fälle auf eine Zahnspange hinausläuft. Der Streit über medizinischen Sinn oder Unsinn der Spangen war in den Vorjahren schon beim Bundesrechnungshof angekommen. Nur wenige Studien konnten selbst nach Angaben des Verbandes der Kieferorthopäden einen medizinischen Nutzen, etwa in Sachen Karies und Parodontitis belegen – einmal abgesehen von der Zufriedenheit der Behandelten, die relativ hoch ist.

Eher optimistisch werden die Barmer-Daten hingegen von der Bundeszahnärztekammer bewertet. Deren Präsident Christoph Benz meint, dass sich bisherige Investitionen in die Vorsorge auszahlen. Er verwies aktuell auf die Deutsche Mundgesundheitsstudie: »Die Karies bei Kindern wurde auf ein Zehntel reduziert«. Deutschland gehöre zu den Ländern mit den niedrigsten Kariesprävalenzen bei 12-Jährigen. »Bei Erwachsenen ist die Zahl der Füllungen rückläufig, Zahnverluste haben sich halbiert. Senioren weisen durchschnittlich fast sieben mehr eigene Zähne auf als noch zur Jahrtausendwende«, so Benz.

Die Freude über solche Entwicklungen ist bei den Zahnärzten allerdings getrübt. Denn gerade das in der vergangenen Woche im Bundestag verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat auch für die Berufsgruppe die Möglichkeiten präventiver Maßnahmen wieder eingeschränkt. Konkret geht es um eine neue Parodontitis-Richtlinie. Bei dieser Erkrankung ist das Zahnfleisch häufig entzündet, verursacht durch Bakterien. Es kommt zu Blutungen und Schwellungen, das Zahnfleisch geht zurück, der Zahnhalteapparat wird angegriffen. Am Ende können Zähne ausfallen. Da Parodontitis nicht schmerzhaft ist, wird sie oft zu spät erkannt. Weil aber die Bakterien in den Blutkreislauf gelangen können, steigt das Risiko für Folgeerkrankungen wie Diabetes, Schlaganfall und Herzinfarkt.

Für diese Volkskrankheit gibt es seit Juli 2021 eine neue Behandlungsrichtlinie. Es handelt sich jedoch um eine präventive Maßnahme von insgesamt zwei Jahren, in deren Verlauf unter anderem mehrmals die Zähne professionell gereinigt werden. Die Mittel dafür werden aber jetzt – weil präventiv – begrenzt. Das sieht das genannte neue Gesetz vor, das den Milliardendefiziten der gesetzlichen Kassen entgegenwirken soll. Damit wird aus Sicht der Zahnärzte den etwa 30 Millionen Patienten, die eine Parodontitis haben, faktisch eine Leistung vorenthalten. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im Zusammenhang mit den Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung immer betont, dass es nicht zu Leistungskürzungen kommen werde. Die Richtlinie galt als Meilenstein für die Verbesserung der Mund- und Allgemeingesundheit.

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