Innenminister Grande-Marlaska in Not

Massaker an Migranten wurde vor allem auf spanischem Boden in Melilla verübt

  • Ralf Streck, San Sebastián
  • Lesedauer: 3 Min.

Die spanische Regierung kommt nach den tödlichen Vorgängen am Grenzzaun zur Exklave Melilla am 24. Juni schwer unter Druck, allen voran Innenminister Fernando Grande-Marlaska. Grund ist eine Reportage, die die britische BBC unter dem Titel »Death on the Border« vergangene Woche ausgestrahlt hat. Darin wurde deutlich, dass es Grande-Marlaska mit der Wahrheit über die Vorgänge am Grenzzaun zu Marokko nicht sehr genau genommen hat. Nach offiziellen marokkanischen Angaben verloren dabei 23 Einwanderer und Flüchtlinge das Leben. Nichtregierungsorganisationen wie Walking Borders sprechen allerdings von mindestens 40 Toten. Eine genaue Zahl gibt es nicht, denn 70 Menschen gelten noch als vermisst.

Die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwältin Beatriz Sánchez hat erhebliche Zeitsprünge in den Aufnahmen an »relevanten« Zeitpunkten in dem Videomaterial festgestellt, das das Innenministerium zur Verfügung gestellt hatte. Sie fordert die komplette Herausgabe der Aufnahmen von der zum Grenzschutz eingesetzten Guardia Civil, was zuvor schon der Ombudsmann des Parlaments, Ángel Gabilondogetan hatte.

Seit dem BBC-Bericht und dem anschließenden Besuch einer Parlamentarier-Delegation in der Exklave, muss sich Grande-Marlaska kritische Fragen gefallen lassen. Im Juni hatte er behauptet, die marokkanische Gendarmerie sei auf spanischem Gebiet nicht brutal gegen die bis zu 1700 meist afrikanischen Migranten vorgegangen, die versucht hatten, über die Grenzzäune nach Melilla zu gelangen. Bei den Vorgängen wurde auch scharf auf die Migranten geschossen, wie Helena Maleno gegenüber »nd.Der Tag« bestätigte, denn Walking Boarders habe Opfer mit Schussverletzungen behandelt, erklärte die Gründerin der Organisation.

Die BBC hat jetzt Angaben des Innenministers widerlegt, der stets erklärt hatte, auf spanischem Gebiet habe es keine Todesfälle gegeben. Nun titeln zahlreiche Medien, dass »alle Toten« auf spanischem Territorium zu verzeichnen waren. In der BBC-Reportage ist zu sehen, wie marokkanische Beamte an den drei Grenzzäunen die Migranten aus Spanien nach Marokko zurückbringen.

Die große linksliberale Tageszeitung »El País« konnte zwischenzeitlich auch Drohnen- und Hubschrauber-Aufnahmen der Guardia Civil auswerten. Sie spricht davon, dass die regierungsamtliche Version zu den Vorgängen »schwer ins Wanken« gerate. Die Zeitung wirft »zwei Fragen« auf, »die für die Bestimmung möglicher Verantwortlichkeiten von zentraler Bedeutung sind«. Es geht um den Ort, an dem sich die »Massenpanik« angesichts des äußerst brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte ereignete, und um die »medizinische Versorgung« danach.

Da auch die »El País« vorliegenden Bilder zeigen, dass Schwerverletzte und Tote von der marokkanischen Gendarmerie zurück nach Marokko geschleift wurden, ist die spanische Verantwortlichkeit für die Vorgänge schon geklärt. Zudem führt »El País« aus, dass sich Beamte der Guardia Civil am Boden liegenden Menschen genähert hätten, um ihren Zustand festzustellen. »Doch in keinem Augenblick sieht man, dass sie von medizinischem Personal versorgt wurden«, schreibt die Zeitung.

Angesichts der Enthüllungen fordern neun Parteien im Madrider Kongress die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Zuvor konnte die Parlamentarier-Delegation die Vorgänge nach Einsicht in Videos aus Überwachungskameras bestätigen. Sie stellten fest, dass auch die Guardia Civil äußerst brutal vorgegangen ist. Demnach feuerten die spanischen Polizisten 86 Tränengasgranaten und 65 Gummimantelgeschosse ab.

In der Delegation befanden sich auch Parlamentarier des Linksbündnisses Unidas Podemos (UP), das mit den Sozialdemokraten (PSOE) von Pedro Sánchez eine Minderheitsregierung bildet. Nach der Rückkehr aus Melilla sagte der UP-Abgeordnete Enrique Santiago, es gebe »keinen Zweifel daran«, dass sich die tödlichen Vorgänge auf spanischem Territorium ereignet haben. Er zeigte sich bestürzt darüber, dass Verletzte über drei Stunden nicht medizinisch versorgt wurden, in denen noch Leben hätten gerettet werden können. Die UP gehört zu den neun Parteien, die den Untersuchungsausschuss fordern – gegen den Willen des Koalitionspartners PSOE.

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