Wertespektakel

Wie die Wissenschaft die Wirklichkeit auf den Kopf stellt

Der deutsche Verbraucher: zugunsten der westlichen Werte für jegliche Entbehrung bereit?
Der deutsche Verbraucher: zugunsten der westlichen Werte für jegliche Entbehrung bereit?

Die Pressestelle der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, deren Newsletter ich ungefragt empfange, lädt mich herzlich ein zu der Veranstaltung »Zum Preis von Freiheit und Demokratie: Die 52. Römerberggespräche in Kooperation mit dem Forschungsverbund Normative Ordnungen«. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine stehen dabei folgende Hot Topics auf der Agenda: »Was sollen uns Völkerrecht und transnationale Gerechtigkeit wert sein? Welche Opfer wollen wir für den Schutz von geflüchteten und vertriebenen Menschen bringen? Welchen Preis müssen wir für die Verteidigung von Demokratie und Freiheit bezahlen? Und wie rechtfertigen wir diese Kosten denen gegenüber, die ihre Existenzgrundlage gefährdet sehen?«

So drängend und geradezu schicksalhaft diese Fragen daherkommen, so sehr sind sie Ausdruck eines ideologischen Blickes auf die bürgerliche Gesellschaft. Das außenpolitische Handeln der Bundesrepublik erscheint als bloße Verteidigung von »Werten«, ökonomische Zwecke spielen scheinbar gar keine Rolle. Innenpolitisch hingegen schlagen diese hehren Ziele plötzlich schnöde materiell zu Buche – selbstverständlich aufseiten der Bevölkerung: Preise müssen gezahlt, Werte erhoben und Opfer gebracht werden. Unumwunden räumen die Herrschaften von der Goethe-Universität an dieser Stelle auch ein, dass in der steinreichen Bundesrepublik Existenzgrundlagen gefährdet sind. Interessant ist allerdings, worauf sie diese Härte explizit nicht zurückführen: Nämlich darauf, dass die Mehrheit der Menschen von (häufig niedrigen) Löhnen abhängig ist oder jederzeit ihre Arbeitsstelle aus Rationalisierungsgründen oder ihre Wohnung wegen zu hoher Miete oder Eigenbedarfskündigung verlieren kann. All das gilt in der kapitalistischen Gesellschaft zwar immer – wird aber komplett unter den Teppich gekehrt, wenn alle Nöte nur noch als Kosten eines gerechten Kampfes um Werte erscheinen.

Die 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung Deutschlands, die von der rot-grün-gelben Bundesregierung im Sommer dieses Jahres in Windeseile verabschiedet wurden, müssen »wir« offenbar dennoch gegenüber »denen« rechtfertigen. Eine Gegenüberstellung übrigens, in der – unwillkürlich, möchte man meinen – aufscheint, dass hierzulande die einen entscheiden und ganz andere die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu tragen haben. Den Gürtel enger schnallen müssen faktisch immer nur diejenigen, denen die finanziellen Mittel für die teureren Preise fehlen, und das ist niemals die kleine Minderheit, die hier politisch und/oder ökonomisch herrscht. (Wer braucht schon ein 9-Euro-Ticket, wenn er einen Dienstwagen hat?)

Womit wir wieder bei der Goethe-Universität wären. Echte Wissenschaft wäre es, ausgehend von den wirklichen Verhältnissen Herrschaftsdiskurse auseinanderzunehmen und herauszuarbeiten, auf welche Weise den Leuten damit die hiesigen Verhältnisse schmackhaft gemacht werden. Doch der akademische Betrieb hat weder subjektiv noch objektiv diesen gesellschaftskritischen Auftrag. Sondern er besteht – zumal auf der professoralen Ebene – aus Leuten, die zwar wissen könnten, dass Freiheit in Wirklichkeit eine bürgerliche Rechtskategorie ist und kein abstrakter Wert, die aber zu viel von der bestehenden Ordnung haben, als sich ernsthaft zu ihrer Kritik aufzuraffen. Tanja Röckemann

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -