Das, was das Publikum nicht weiß

Als wäre der Krieg im Irak eine Simulation: Chelsea Manning legt ihre Autobiografie vor

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 7 Min.
Chelsea Manning: »Für jeden neuen Aspekt meines Lebens gab es scheinbar einen Chatroom.«
Chelsea Manning: »Für jeden neuen Aspekt meines Lebens gab es scheinbar einen Chatroom.«

Es ist schon länger her, dass Chelsea Manning als Whistleblowerin bekannt wurde. 2010 enthüllte sie über die Plattform Wikileaks die raue Wirklichkeit der Kriege, die die USA im Irak und in Afghanistan führten, und wurde dafür verhaftet. Seitdem ist viel Zeit vergangen: Die US-Armee besetzt nicht mehr Kabul und Bagdad. Und 2013 wurde Edward Snowden mit weiteren Enthüllungen berühmt. Es war am dritten Tag des Prozesses gegen Manning, als Snowden den riesigen Überwachungsapparat des US-Geheimdienstes NSA entlarvte und damit Manning der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit beraubte. 2013 war es auch, als Manning erklärte, sich schon immer als Frau gefühlt zu haben.

Snowdens Autobiografie »Permanent Record« erschien 2019. Nun zieht Manning endlich nach. Heute kommt ihre Autobiografie »Readme.txt« in deutscher Übersetzung heraus. Darin offenbart sie ihre Persönlichkeit. Zeitlebens war sie so intelligent wie mittellos, hin- und hergerissen zwischen großer Abenteuerlust und starkem Sicherheitsbedürfnis. Manning kam 1987 in Oklahoma als Bradley zur Welt, der Vater war ein Marine-Veteran und Computerfachmann, die Mutter eine Engländerin; beide Alkoholiker. Früh interessiert sich Bradley für die väterlichen Computer wie für die Kleider und die Schminke seiner älteren Schwester. 

Die Ehe der Eltern scheitert. Manning zieht mit der Mutter nach Wales und schreibt dort in der Schule Aufsätze gegen den Irak-Krieg und bekommt dafür den Beifall der Mitschüler. Mit der trinkenden Mutter kann Manning nicht gut zusammenleben, kehrt mit 17 nach Oklahoma zurück und wird dort bald vom Vater aus dem Haus geworfen. Manning fährt nach Chicago und prostituiert sich Abend für Abend, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Mehr als eine Mahlzeit am Tag ist nicht drin, und auch keine Sonnencreme, sodass die Sonne die Haut verbrennt. Das Tanzen und die Ecstasy-Pillen in den Clubs entschädigen ein bisschen für das Leben am Abgrund. Eine Tante aus Maryland rettet Manning unerwartet. Danach studiert Manning an einer kleinen Hochschule, finanziert durch lange Starbucks-Schichten.

Zur selben Zeit beginnt Edward Snowden seinen Dienst als CIA-Agent in Marylands Fort Meade. Der junge IT-Techniker verdient 2007 so viel Geld, dass er kaum weiß, wie er es ausgeben soll. Seinen Ralph-Lauren-Anzug und seine Burberry-Sonnenbrille findet er befremdlich: »Ich war reich oder zumindest dachten meine Freunde so. Ich dagegen konnte mich kaum wiedererkennen.« Snowden ist ein direkter Nachfahre der Puritaner, die mit der »Mayflower« in Amerika ankamen. Seine Vorfahren kämpften in jedem Krieg, den die USA seit der Staatsgründung führten. In »Permanent Record« schildert er sein Geburtshaus als ein großartiges, altes Gebäude unter blühenden Bäumen: »Im Sommer wurde das Gras von weißen Magnolien-Blüten bestreut, die ich als Deckung für meine Kunststoffsoldaten verwendete.«

Zwischen den Whistleblowern Snowden und Manning steht die Klassenfrage. Snowden gehört zu einer Art Kriegerkaste; sein Großvater war Admiral. Der Agent und Techniker demonstriert stets Autorität und sieht sich als Garant der allgemeinen Sicherheit. Manning dagegen ringt um die eigene Sicherheit. Weil das Studium nicht mehr bezahlbar ist, geht Manning im Herbst 2007 zur Armee, die für den Krieg im Irak kaum noch Rekruten findet. 20 000 Dollar bekommt Manning für die Unterschrift, Soldat werden zu wollen. Die Ausbildung ist extrem anstrengend, die Routine und die Regeln der Armee sind merkwürdig. Beispielsweise darf man nur schwarze Filzstifte benutzen und keine blauen, als wäre das »eine Metapher für Souveränität und Strenge«. Manning hängt sich voll rein und setzt sich durch. In Kleingruppenmanövern wird Manning als Soldat ausgezeichnet und schließlich Analyst.

Für Manning bedeutet die Armee ein sicheres Einkommen, Wohnung und regelmäßige Gesundheitsvorsorge. Snowden dagegen ging aus Patriotismus zur Armee, direkt nach dem Angriff vom 11. September. Doch bei der Ausbildung in den Wäldern von Georgia scheitert er grandios als Infanterist und bricht sich beide Oberschenkel. Danach liegt seine Zukunft beim Aufklärungsdienst.

Manning stellt im Rückblick auf ihre Jugend fest: »Für jeden neuen Aspekt meines Lebens gab es scheinbar einen Chatroom.« Snowden war am Rechner sehr begabt. Schon als Schüler hackte er sich in das Militärlabor von Los Alamos. Als er die mächtigen Computer des Staates offiziell bedienen darf, erstellt er ein Back-up-System für den weltweiten Datenverkehr der NSA, denn Fort Meade sollte einen Atomangriff ohne Datenverlust überstehen. Auf seinem letzten Posten auf Hawaii versteht Snowden schließlich, wie sich die verschiedenen Teile des digitalen Leviathans sich zu einem System der Massenüberwachung zusammenfügen.

Snowden war anfänglich überzeugt von dem, was er tat, Manning nie. Zweifel waren von Anfang an allgegenwärtig. Die Trans-Identität sorgte für weitere Entfremdung von der Armee. Aber Manning ist erfolgreich und will schließlich freiwillig in den Irak gehen. Dort arbeitet Manning auf der Basis Hammer, einem neuen, riesigen Gelände bei Bagdad, das den US-amerikanischen Siegeswillen im schwieriger gewordenen Krieg unterstreichen soll. Doch Manning fühlt sich dort an zwei Orten gleichzeitig anwesend, auf der Basis und auf dem Schlachtfeld, das in grausamen Videos dokumentiert wird – real wie digital existierend, vom Körper entkoppelt, »als ob ich in einer Simulation lebte«.

Manning arbeitet immer nachts, das Abendessen ist das Frühstück. Die Bilder, die Manning sieht, sind brutal und haben mit dem Bild, das der Öffentlichkeit serviert wird, wenig zu tun – dieses ist nur eine zensierte, verharmloste Version. Für Manning ist das reines Supermachtgehabe. Schaut man als Soldat vom Irak auf die USA, ist das so ähnlich, als wenn Astronauten aus dem Weltraum auf die Erde schauen. Wie alle Berufssoldaten denkt Manning, dass dieser Krieg nicht gewonnen werden kann. Ist man im Irak gelandet, geht es nur noch darum, wieder heil nach Hause zu kommen. Aber die Bilder, die Manning dort sah, sollte auch die Öffentlichkeit sehen. Und so leakt Manning rund 500 000 Geheimdokumente, um die wahre Geschichte dieses Krieges zu zeigen.

Wie hoch die Strafe für die Enthüllung ausfallen würde, wusste Manning nicht. Die Whistleblower des Vietnam-Krieges, Wilson Peck und Daniel Ellsberg, waren nicht belangt worden. Als Manning im Herbst 2010 in Bagdad verhaftet wurde, waren die Soldaten, die die Handschellen anlegten, gute Bekannte. Sie scherzten zusammen auf dem Flug nach Kuwait. Und dort warfen sie Manning in einen Eisenkäfig. Die Begründung durfte Manning nicht mehr lesen. Snowden hingegen gelang es zu entkommen. Mittlerweile lebt er in Moskau im Exil, das einer Art Verbannung gleichkommt.

Ein Whistleblower ist fixiert auf das, was das Publikum nicht weiß. Doch das Publikum im Westen weiß bereits viel aus den Medien. Deshalb fürchtet ein Whistleblower, nach der Entdeckung nicht mehr gehört zu werden. Sein einziger Schutz ist die Öffentlichkeit. Manning und Snowden waren die ersten Whistleblower in der Ära von Big Data. Ihre Leaks hatten eine enorme Reichweite. Es war die Totalität der Strafe, die sie zu Dissidenten machte. Manning bekam 35 Jahre Haft, bevor sie 2017 von Barack Obama begnadigt wurde. Die Dissident*innen im totalitären System des 20. Jahrhunderts teilten mit, was viele wussten und dachten, aber nicht zu sagen wagten. Die Dissident*innen Snowden und Manning haben das Publikum mit Informationen versorgt, ein Publikum, das ohnehin mit Informationen zugeschüttet wird. Doch sie unterstreichen, dass die Komplexität des Systems auch seine Verletzlichkeit darstellt. Das Publikum aber kauft weiterhin digitale Geräte, mit denen man auch ausspioniert werden kann.

Snowden ist russischer Staatsbürger geworden und bleibt Aktivist für Datenschutz und Pressefreiheit. Chelsea Manning setzt sich für die linksliberale Sache ein und scheiterte beim Versuch, in Maryland Senatorin zu werden. Sie bekam nur ein Prozent der Stimmen. In ihrem Buch beschreibt sie die Missstände im Irak: »Ich wollte, dass die Welt dieses Ding verstünde, das Sehen des Matrix-Gefühls, das ich im Irak gefühlt habe. Dieses Ding war Chaos…« Ein Teil des »Dings« jedoch war die Klassenfrage selbst, die Umstände, die Manning zur Armee trieben. Es gibt in dieser Welt die Snowdens und die Mannings. Im Irak trug Manning eine soldatische Erkennungsmarke, in die das Wort »Humanist« eingraviert war; diese wurde bei der Verhaftung abgenommen. Am ersten Tag nach dem Prozess erklärte Manning im Gericht, fortan eine Frau sein zu wollen: Chelsea Elizabeth Manning. Um über das eigene Schicksal zu entscheiden.

Chelsea Manning: README.txt. Meine Geschichte. A. d. amerik. Engl. v. Katrin Harlaß, Enrico Heinemann, Anne Emmert. Harper Collins, 336 S., geb., 22 €.

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