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- »Überraschungstüten«
Skandal: Vom Kapitalismus abgezockt!
Haben Sie schon mal eine »Überraschungstüte« eines Unternehmens gekauft, das nicht verzehrte oder gekaufte Lebensmittel weiterverscherbelt?
Seit einiger Zeit boomen hierzulande in den Großstädten sogenannte Social-Impact-Unternehmen, die zwar ganz nach den altbekannten Regeln des Kapitalismus funktionieren (»kauf unseren Scheiß, von dem du zuvor nicht wusstest, dass du ihn brauchst«), sich dabei aber erfolgreich den Anschein geben, besonders sozial, divers, umweltbewusst und auch sonst superfresh zu sein. Leute, die sich gern belügen lassen, um nach ihrem Einkauf als ökologisch bewusster Konsument ein »gutes Gefühl« zu haben, lieben so etwas.
Eine 2015 gegründete (und seither erhebliche Profite generierende) Internetplattform zum Beispiel, deren »Mission« nach eigenen Angaben die »Vermeidung von Lebensmittelverschwendung« ist, macht mit folgendem Geschäftsmodell ihren Profit: Lebensmittelläden, Bäckereien oder Cafés können – gegen Gebühr, versteht sich – »Partnerläden« des Start-up-Unternehmens werden, was ihnen die Möglichkeit gibt, über die Internetplattform ihre bis zum Abend nicht verkauften belegten Brötchen oder Kuchenstücke oder andere rasch verderbliche Ware in Form von verbilligten »Überraschungstüten« anzubieten. Kunden können die im Preis reduzierten Esswaren dann abends bei dem jeweiligen Laden abholen. Ein Beispiel: Eine Bäckerei packt eine Stunde vor Geschäftsschluss ihre nicht verkauften belegten Brötchen oder Croissants, die für gewöhnlich 10 Euro gekostet hätten, in eine »Überraschungstüte«, und die Kundin kommt abends vorbei und bezahlt 3 oder 3,50 Euro dafür. Natürlich muss die Bäckerei auch einen kleinen Prozentsatz des Erlöses, den sie mit jeder »Überraschungstüte« erzielt, an unser wohlmeinendes Lebensmittelrettungsunternehmen abführen. Von nichts kommt schließlich nichts, haha.
Natürlich war das meiste ungenießbar beziehungsweise, wie es so schön heißt: »für den menschlichen Verzehr nicht geeignet«. Aber egal, dafür war es billig gewesen. Und eine »Überraschung« war es auch, da hat die Firma nicht gelogen!
Das hat Vorteile für alle an dem Prozess Beteiligten: Die Bäckerei kann ihr vertrocknendes Brot abstoßen. Die Kundin und ihre kleine Tochter haben ein frugales Abendessen, das Mama sich zum normalen Preis nicht hätte leisten können. Und unsere clevere moderne Internetplattform fährt sozusagen mit jedem Mausklick still Gewinne ein. »Das nennen wir eine Win-win-win-Situation«, so heißt es auf der Webseite des Unternehmens. Daumen hoch!
Wer will, kann das mal ausprobieren, so wie ich es getan habe: Eine »Überraschungstüte« (Preis: stolze 6 Euro) einer namhaften großen deutschen Hotelkette enthielt, als ich ihren Inhalt neugierig zu Hause auspackte, Folgendes: drei Scheiben Billigsalami, eine Scheibe Billigbutterkäse, beides vom langen Liegen am Frühstücksbuffet des Hotels schon ordentlich durchgetrocknet, als hätte man die Scheiben stundenlang mit einem Fön bearbeitet; eine kleine Plastikschüssel versalzenes, kaltes »Rührei« – es handelte sich um eine ekelhafte sogenannte Rührei-Fertigmischung aus dem Tetrapack, auch »Fake-Ei« genannt – sowie eine kleine Schachtel, in der man ein Sammelsurium weiterer Speiseabfälle sorgsam nebeneinander angeordnet hatte, wohl in der gutgemeinten Absicht, den Appetit des Erwerbers der »Überraschungstüte« anzuregen: schwarzgebratene, mit Speisefett vollgesogene Kügelchen von gummiartiger Konsistenz, die nach einer eingehenden Untersuchung schließlich als Champignons identifiziert werden konnten; eine vergammelte, ungeschälte gekochte Kartoffel, in drei Teile geschnitten; ein paar fingerhutgroße »Frikadellen« (Separatorenfleisch-/Fett-Mischung) von der Sorte, wie sie in großen Plastikboxen in Discountern verkauft werden, und ein wabbeliges, mit Wurstwasser durchtränktes Würstchen aus einem Glas. Guten Appetit.
Natürlich war das meiste davon komplett ungenießbar beziehungsweise, wie es so schön heißt: »für den menschlichen Verzehr nicht geeignet«. Aber egal, dafür war es billig gewesen. Und eine »Überraschung« war es auch, da hat die Firma nicht gelogen!
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Der Kapitalismus ist ein aufgewecktes, entwicklungsfähiges System, es lernt permanent dazu: Die Speisereste, die früher in den Müllcontainer wanderten, werden jetzt – etikettiert als »Überraschungstüte« für Menschen mit »nachhaltigem«/»ethischem« Konsumverhalten – gewinnbringend verscherbelt. Früher wurden die nicht verkauften oder nur noch kurze Zeit haltbaren Nahrungsmittel durch achtloses Wegwerfen sinnlos verschenkt. Oder anders formuliert: Teils bedürftige, teils politisch engagierte junge Leute, die nachts über Zäune kletterten und im Schutz der Dunkelheit die abgelaufenen Joghurts und angegammelten Karotten aus den Mülltonnen der Supermärkte klaubten, wurden zum Stehlen ermutigt!
Heute wird der Umgang mit Abfällen Gott sei Dank bewusster gehandhabt, indem sie sozusagen voll und ganz, ohne Einschränkungen und Abstriche, in den Marktwirtschaftskreislauf integriert werden.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht prinzipiell ganz auf den Kauf von Lebensmitteln verzichtet werden sollte und stattdessen die schöne altmodische Idee des kostenlosen Verteilens nach jeweiligem Bedarf popularisiert werden sollte. Wobei ich mir, in meiner Funktion als unverzichtbarer Kulturarbeiter, hiermit gestatte, vorab schon mal erhöhten Champagnerbedarf anzumelden.
Sicher ist jedenfalls: Auch ich bin ein lernfähiges System. Bei der oben genannten namhaften Hotelkette hole ich mir vorerst keine »Überraschungstüte« mehr.
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