Erneuter Kampf um Rojava

Autonomieregion in Nordsyrien steht unter militärischem Druck des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan

  • Linda Peikert
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit der Nacht auf Sonntag bombardiert die Türkei die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (Rojava), weitere Teile Syriens wie Aleppo und Teile des Nordiraks. Die Angriffe halten an und haben sich in der Nacht von Montag auf Dienstag auf weitere Städte in Nordostsyrien ausgebreitet. Bisher seien laut lokalen Angaben über 35 Personen gestorben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zieht zusätzlich zu den Luftangriffen eine Bodenoffensive in Betracht. Seit dem Frühjahr sind türkische Söldner, viele mit Al-Nusra-Vergangenheit, vor nordsyrischen Städten wie Minbich stationiert.

Auch eine Invasion kündigte der türkische Staatschef bereits seit Monaten an, allerdings schien er bisher kein grünes Licht von den USA bekommen zu haben. Sie beherrschen große Teile des Luftraums über der Region.

Für einen Anschlag in einer Einkaufsstraße in Istanbul vor eineinhalb Wochen machte der türkische Präsident die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die nordsyrische YPG verantwortlich. Doch die Beschuldigten wiesen jede Verantwortung für den Anschlag zurück. »Keine unserer militärischen Kräfte hat etwas mit diesem terroristischen Angriff in Istanbul zu tun«, sagt auch die stellvertretende Ko-Vorsitzende des Exekutivrats Nord- und Ostsyriens, Amina Osse, gegenüber »nd«.

»Angriffe, bei denen Zivilistinnen getötet werden, verurteilen wir. Wir fordern die internationale Gemeinschaft dazu auf, gegen diese Beschuldigung der Türkei aufzustehen«, fährt Osse fort. Beim G20-Gipfel auf Bali sprach US-Präsident Joe Biden Erdoğan sein Beileid wegen des Anschlags aus. Nach dem Zusammentreffen kündigte der türkische Staatschef die Angriffe auf Syrien und den Irak an – und die US-Botschaft warnte bereits am Freitag US-Bürger*innen, Syrien und den Irak wegen »potenzieller türkischer Militäreinsätze« zu verlassen, also knapp zwei Tage vor Beginn der Angriffe.

Die Bombardements starteten in der Nacht auf Sonntag auf verschiedene Gebiete und trafen auch Infrastruktur wie ein Krankenhaus oder eine Stromverteilungsstelle. »Die Angriffe machen keine Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen«, sagt die nordsyrische Politikerin Osse. Bei einem Angriff in der Nähe der Stadt Dêrik, im äußersten Nordosten Syriens, starben zwei Menschen. Nachbar*innen und ein Journalist, die die Anschläge hörten, eilten zur Hilfe. Dem »nd« liegt ein Video vor, wie die Zivilist*innen nach erster Hilfe ein Statement am Anschlagsort in eine Kamera sprechen. Kurze Zeit später fliegt das türkische Militär einen zweiten Luftangriff: Neun Personen sterben, darunter auch der Journalist. Weitere sind verletzt.

Zeyneb Hisên wohnt unweit vom Angriffsort. »Ich habe zum Zeitpunkt des Angriffs schon geschlafen«, erzählt sie dem »nd«. »Wäre ich wach gewesen, wäre ich mit Sicherheit auch direkt hingegangen, um die Verletzten zu bergen. Dann wäre ich heute vielleicht auch tot.« Sie sei trotzdem fest entschlossen, für ihre Region Widerstand gegen die türkischen Angriffe zu leisten und gibt sich kämpferisch. »Zuerst kam die Al-Nusra Front, dann der IS und jetzt Erdoğan. Er tötet unsere Kinder, unsere Ältesten und unsere Frauen. Aber wir fürchten uns nicht vor diesen Angriffen«, sagt die Anwohnerin Hisên.

Obwohl sie sich bewusst sei, dass die militärische Ausrüstung der des türkischen Militärs weit unterlegen ist, würde auch sie als Mutter mit allen Mitteln ihre Region verteidigen wollen. Sie hat in den letzten Jahren bereits viele Grausamkeiten miterlebt: »Es gibt keine Waffen, die Erdoğan nicht gegen uns einsetzen würde. Luftwaffen, chemische Kampfstoffe … Die hat er auch in der letzten Offensive in Serekaniye eingesetzt, bei der Kinder von den Chemikalien Verbrennungen erlitten«, sagt Hisên. »Und die Weltgemeinschaft schweigt. Niemand hat Erdoğan dafür verurteilt, unsere Kinder zu töten«, fügt sie empört hinzu.

»Für die Menschen hier ist eine erneute Invasion der Türkei eine Katastrophe«, sagt Ronahî. Sie ist Deutsche und hat sich als Internationalistin der kurdischen Frauenkraft YPJ angeschlossen. »Oft wird das, was sich die Menschen hier mühsam aufbauen, mit den nächsten Angriffen wieder zerstört.« Ronahî schätzt die Lage als äußerst bedrohlich ein: »Wir müssen mit einer längeren Operation seitens der Türkei rechnen. Da Erdoğan vor keinem Mittel zurückschreckt, sind wir auf alles vorbereitet.« Auch sie berichtet vom Einsatz chemischer Waffen während der letzten türkischen Invasion im Gebiet um Serekaniye.

Auf die bevorstehende Invasion hätten sich die Militärkräfte vorbereitet: »Wir werden im Falle des aktiven Angriffs auch aktive Gegenwehr leisten, um die Bevölkerung zu schützen«, sagt Ronahî. »Das Ziel der aktuellen Angriffsstrategie ist vor allem, Angst im Volk zu verbreiten und die Menschen dazu zu bringen, ihr Land zu verlassen. Deswegen wurden bisher auch mehrheitlich zivile Ziele angegriffen«, mutmaßt sie.

Dass die türkischen Angriffe eine Fluchtbewegung auslösen werden, vermutet auch die Politikerin Amina Osse: »Krieg verschlechtert immer die Situation der Menschen und provoziert Flucht. Das wollen wir verhindern.« Deshalb bemühe sich die nordsyrische Politik um Deeskalation. Eine kriegerische Auseinandersetzung könne außerdem noch weitere Probleme mit sich bringen: »Diese Angriffe bieten dem IS die Möglichkeit, sich neu zu organisieren und wieder zu erstarken«, gibt die nordsyrische Politikerin zu bedenken.

Zehntausende IS-Terroristen und IS-Familien werden von den lokalen Kräften in Nord- und Ostsyrien in Camps und Gefängnissen festgehalten. In einer Kriegssituation könne die sichere Inhaftierung der Terroristen unter Umständen nicht mehr gewährleistet werden. Deshalb fordert Amina Osse insbesondere die internationale Koalition gegen den Islamischen Staat dazu auf, »Verantwortung zu übernehmen und eine drohende Katastrophe zu verhindern«.

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