Ilja – so hieß sonst niemand

Zu seinem 70. Geburtstag veröffentlicht Ilja Richter ein Buch mit »Porträts von Menschen, die mich prägten«

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Frühjahr 1969 schwappt der Aufruhr von den Unis auf die Schulhöfe über. Im Fernsehen befeuern Thunderclap Newman den »Beat-Club« und singen: »Hand out the arms and ammo / We’re gonna blast our way through here«. Der Sound der Revolte, aufgeladen durch das ruppigste Piano-lead-riff der Popgeschichte. Rote Banner werden aus Klassenfenstern entrollt, in vollem Ernst. »Brecht dem Establishment die Gräten – alle Macht den Schülerräten« wird an ehrwürdige Schulgemäuer gepinselt. Im Unterricht werden die Lehrer durch erlesene Klassiker-Zitate nicht nur verunsichert, sondern zur Weißglut gebracht. Der Klassenlehrer empfiehlt jedoch uns zur Abkühlung den neuen Film von Peter Zadek, »Ich bin ein Elefant, Madame«. Am Maifeiertag starten wir, nervöse Untersekundaner, unsere frisierten Velo Solex zum Kinobesuch in Münster. Der Film erzählt die Geschichte einer Revolte an einem Bremer Gymnasium. Ilja Richter, mein Altersgenosse, tritt darin nicht groß in Erscheinung, vorwiegend feixend und irgendwie weltfremd: als Schüler Haverkamp der zweiten Bankreihe verhaftet. Eine Rolle, mit der ich mich damals identifizieren kann.

Der »Beat Club« wurde von Radio Bremen produziert. Am Samstagabend jagt die Sendung meine Eltern aus der Fernsehstube. Und Ilja Richter taucht im ZDF auf, als Moderator von »4-3-2-1-Hot and Sweet«, ein biederes Format, in dem nur Richter neue Maßstäbe setzt – als jüngster Moderator des Landes. Ihm ist die Schweizer Sängerin Suzanne Doucet als eine Art große Schwester beigesellt. Für die Nachfolgesendung »Disco« wird er allein besetzt, ohne sie. In seinem neuen Buch »Nehmen Sie’s persönlich«, ein autobiografisches Kaleidoskop aus verschiedenen Begegnungen, bekennt er: »Dass ich später, gerade mal siebzehn, mit ansah, wie sie, die mich als Co-Moderator vorgeschlagen hatte, vom ZDF zu meinen Gunsten weggeschickt wurde, nehme ich mir mit siebzig noch krumm.« Die Sendung läuft von 1971 bis 1982.

Wenn der »Beat Club« kommt, dann geht mein Vater hin und wieder zurück ins Wohnzimmer, um einen verstohlenen Blick auf Uschi Nerke, die Moderatorin im Minirock, zu werfen. Doch Ilja Richter fand er unmöglich: »Der gehört doch in Klapse!« Die damaligen Jugendlichen waren langhaarige Hippies, aber Ilja Richter war geschniegelt und gebügelt und glamourös. Dessen Modernität fand mein Vater, der in der Textilbranche schuftete, bedrohlich. Ilja in 133 »Disco«-Folgen: strahlend, schwebend, eloquent, eine ephemere Erscheinung. Er bringt Sketche, Parodien und Couplets. Ein öffentlich-rechtlicher Kobold, der sich aber seiner Grenzen wohl bewusst ist: »Nichts gegen die Kirche, Parteien, Ehe und schon gar nichts, was Sie schon immer über Sex wissen wollten.«

In seinem neuen Buch versammelt Ilja Richter »Porträts von Menschen, die mich prägten«, so der Untertitel. Oft sind es Texte über Kolleg*innen aus der Branche, aber auch Janus Korczak, Mary Gerold-Tucholsky, Rudi Dutschke, Georg Stefan Troller werden ins Licht gerückt. Jan Böhmermann kommt gar nicht gut weg. Sein »Schmähgedicht auf Erdoğan hätte in seiner plumpen Eindimensionalität gerade mal für den Verweis des Klassenlehrers an den Pausenclown gelangt.« Stattdessen gab es den Grimme-Preis 2016.

Trotz der 13 Lustspielfilme, die er drehte und der nach wie vor im Internet verfügbaren Albernheiten in Frauenkleidern resümiert er heute: »Ich lebe gut mit meiner Vergangenheit, aber ich lebe nicht in ihr.« Er nimmt Abschied vom Berufsjugendlichentum und wendet sich dem Kabarett zu, singt Georg Kreisler-Lieder. Als er 1983 in Westberlin gegen Cruise Missile und Pershing-Raketen auf der Bühne steht, machen sich die Medien über ihn lustig. Den Friedens-Richter lassen sie nicht durchgehen. Sein väterlicher Freund, der Schauspieler und Antifaschist Curt Bois tröstet ihn: »Es wird wieder Herbst und die Blätter fallen über uns her.« Nicht nur ihm gilt Richters innige Zuneigung. Auch Theo Lingen, der seine jüdische Schwiegermutter aus der Deportationshaft rettete und dafür zu Goebbels ging. Der sagte zu ihm: »Wir wissen genau, lieber Herr Lingen, mit wem wir es zu tun haben. Aber solange die Soldaten an der Front über Sie lachen, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«. Oder der Schlagersänger Chris Roberts, geboren 1944 als Christian Klusáček, staatenlos bis kurz vor seinem Tod 2017: Er »verkörperte eine Art Unschuld, die diese Republik nie gehabt hatte.« Wegen derartiger, fein formulierter Reminiszenzen ist dieses Buch Aufklärung, meinungsstark, mitfühlend, mitunter mühelos witzig.

Was mich 1969 irritierte, war sein Vorname: Ilja. So hieß sonst niemand, ein veritables Alleinstellungsmerkmal. Jungen wurden damals Hart- oder Helmut getauft oder, wenn Extravaganz verzagt anklingen sollte, Martin oder Markus. Später las ich Ilja Ehrenburgs Roman »Der Fall von Paris« und erfuhr auch irgendwann, dass Ilja Richters Eltern ihn nach diesem sowjetischen Schriftsteller benannt hatten, den sie bewunderten.

Der Vater Georg, Kommunist und Widerstandskämpfer, war neuneinhalb Jahre eingesperrt, u.a. im Außenlager Kaltenkirchen des KZ Neuengamme. Sein Vater rät ihm, darüber zu schweigen. Er fürchtet, seine Vergangenheit würde Iljas Karriere schaden. Die Mutter Eva ist Jüdin, die mit gefälschter »Arier«-Identität sich und ihrem ersten Kind, Iljas älterem Bruder, das Leben rettet. Seine jüdische Großmutter aber, eine »kaisertreue Kleinbürgerin«, wird 1944 in Auschwitz ermordet. Nazis treten ihr 1943 in Berlin-Mitte die Tür ein und »zerren die alte Frau auf die Straße, schütten ihr einen Eimer Wasser über den Kopf, als sie sich zu Boden wirft, weil sie nicht in den Lastwagen steigen will. So war das damals […] und alle haben es gesehen.«

Die Familie siedelt in die DDR über, nach Ostberlin, wo Ilja 1952 geboren wird. Georg Richter ist Musikredakteur beim Rundfunk, Eva Sekretärin bei der Komischen Oper. Als sie sich im israelischen Generalkonsulat nach den Modalitäten für eine Ausreise erkundigen, bekommen sie berufliche Schwierigkeiten und gehen 1953 nach Westberlin.

»Für den einzigen Ilja meines Lebens«, lautet die Widmung, die ihm Manfred Krug 2008 in seinen Band »66 Gedichte, was soll das?« gekritzelt hat. Mir ist er der erste gewesen. Heute wird er 70 und lässt sich immer noch ungern duzen. Es war ein langer Weg vom Schüler Haverkamp zum Standing des einzigartigen Ilja Richter. »We got to get together sooner or later« – auch Thunderclap Newmans »Something in the air« wird bei Youtube noch fleißig angeschaut.

Ilja Richter: Nehmen Sie’s persönlich. Porträts von Menschen, die mich prägten. Elsinor-Verlag, 176 S., geb., 19 €.

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