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»Wir sind Revolutionäre«

Abdulkarim Omar ist Europa-Repräsentant der »Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien«

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 6 Min.
Porträt von Abdullah Öcalan, Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), in der Stadt Qamischli, die zur Selbstverwaltung Rojava gehört
Porträt von Abdullah Öcalan, Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), in der Stadt Qamischli, die zur Selbstverwaltung Rojava gehört

Herr Dr. Omar, was ist das Besondere an der »Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien«?

Interview

Abdulkarim Omar ist Europa-Repräsentant der »Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien«. Im Interview spricht er über seine Aufgaben, türkische Kriegsdrohungen, das Erstarken des »Islamischen Staats« (IS) und Gefahren für Europa. Mit ihm sprach Christopher Wimmer.

Wir sind kein Staat und wollen es auch nicht sein. Vor zehn Jahren haben wir uns als Nordostsyrien für autonom erklärt und versuchen seither, eine basisdemokratische und multiethnische Gesellschaft aufzubauen. Wir glauben auch, dass dies ein Modell für ganz Syrien sein könnte. Wir wollen ein neues, demokratisches Syrien.

Sie leiten in Brüssel die Europa-Repräsentanz der Selbstverwaltung. Wie muss man sich das vorstellen, sind Sie ein Botschafter?

Als Selbstverwaltung haben wir mehrere Vertretungen in Europa: in Stockholm, Berlin, Paris, Genf und in Brüssel. Ich koordiniere von Brüssel aus die Arbeit dieser Büros und bin somit verantwortlich für die diplomatischen Außenbeziehungen der Autonomen Selbstverwaltung in Europa.

Wie werden Sie von der Politik in Europa bisher aufgenommen?

Rojava: »Wir sind Revolutionäre«

Ich bin nun seit fünf Monaten in Europa und habe schon verschiedene Länder besucht. Es gibt gute Kontakte nach Katalonien, ins Baskenland oder auch nach Schweden. Wir haben Kontakte zu den Außenministerien der Länder und zu verschiedenen Parteien. Wir machen also ganz offizielle Außenpolitik. Uns ist es aber wichtig, nicht nur auf der staatlichen Ebene zu arbeiten, sondern uns auch mit politisch aktiven Menschen auf allen Ebenen der Gesellschaft auszutauschen. Wir sprechen viel mit Journalisten, aber auch mit Menschen in Nichtregierungsorganisationen oder Forschungseinrichtungen. Wir richten uns direkt an die Menschen. Das ist unser Ansatz und unterscheidet uns von der Außenpolitik der Nationalstaaten.

Gibt es denn ein Interesse an der Arbeit der Selbstverwaltung?

In den Bevölkerungen der Länder gibt es viele Menschen, die uns unterstützen und helfen wollen. In der staatlichen Außenpolitik sieht es etwas anders aus. Seit dem Krieg in der Ukraine ist es besonders schwer für uns. Die Aufmerksamkeit in Europa für Syrien geht mehr und mehr zurück.

Wie ist aktuell die Lage in Nordostsyrien?

Wir stehen vor vielfältigen Herausforderungen und die Lage vor Ort ist allgemein sehr schwer. Vor allem in den Gebieten, die lange vom »Islamischen Staat« (IS) kontrolliert wurden, wie in der Stadt Deir Ez-Zor, ist es schwierig. Zwar haben wir den IS militärisch besiegt, er ist aber weiterhin in den Köpfen vieler Leute. Täglich werden neue Menschen für seine dschihadistische Ideologie rekrutiert. Wir wollen weiter gegen den IS kämpfen, dafür brauchen wir aber Stabilität vor Ort und Unterstützung von außen. Derzeit greift jedoch die Türkei unsere Gebiete an. Dies hat dazu geführt, dass unsere Streitkräfte den Kampf gegen den IS einstellen mussten. Daher wird er seine Aktivitäten wieder aufnehmen. Dies ist nicht nur eine Gefahr für Syrien, sondern für die ganze Welt.

Welche Folgen hätte ein Einmarsch der Türkei in Nordostsyrien für die Region, aber auch für Europa?

Wenn es zu einer Bodenoffensive kommen sollte, wäre das nicht nur für die fünf Millionen Menschen in Nordostsyrien eine Katastrophe. Hundertausende Menschen würden zu Flüchtlingen werden. Die Folge wäre eine neue Migrationsbewegung auch Richtung Europa.

Wie beurteilen Sie dabei die Gefahr durch den IS?

Die ist sehr real. Im Flüchtlingscamp Al-Hol in Nordostsyrien haben wir Zehntausende IS-Kämpfer und ihre Familien inhaftiert. Wenn die Türkei einmarschiert, werden wir dieses Camp nicht weiter beschützen können und islamische Terroristen werden fliehen – auch nach Europa.

Erkennt Europa die Gefahr?

In den Gesprächen, die ich mit Politiker*innen aus ganz Europa geführt habe, wurde immer wieder deutlich: Alle wissen, dass wir als Selbstverwaltung die Türkei nie bedroht oder gar angegriffen haben. Wir sind bereit zum Dialog. Auch wissen alle, dass wir mit dem Terroranschlag von Istanbul im November nichts zu tun haben. Wir haben sogar ein unabhängiges Komitee zur Aufklärung gefordert. Aber trotzdem schweigt Europa zu den Angriffen der Türkei. Man will offenbar keinen offenen Konflikt mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan riskieren. Europa kennt die Gefahr, schweigt aber bislang.

Welche Forderungen würden Sie an die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union stellen?

Der Westen muss – schon aus Eigeninteresse – Druck auf die Türkei ausüben und darf nicht wegsehen. Im Kampf gegen den IS haben wir alle zusammengearbeitet, aber jetzt will man von uns nichts mehr wissen. Die Bundesregierung könnte im aktuellen Konflikt eine Vermittlerrolle einnehmen und sollte sich für eine friedliche Lösung einsetzen.

Dient Ihre diplomatische Arbeit in Europa auch dazu, dass die Selbstverwaltung international politisch anerkannt wird?

Wir streben nach offizieller Anerkennung der Selbstverwaltung, keine Frage. Aber es gibt ja bereits eine De-facto-Anerkennung. Ich kann hier mit unterschiedlichen Politiker*innen sprechen und ihnen die Sichtweise der Selbstverwaltung darlegen. Aber natürlich muss die Anerkennung noch formalisiert werden. Dies steht und fällt alles natürlich mit einer Antwort auf die gesamtsyrische Frage. Wie sieht die Zukunft Syriens aus? Für uns ist die Selbstverwaltung ein Modell, wie man ganz Syrien demokratisieren könnte.

Bedeutet das auch, mit dem Machthaber Baschar Al-Assad zu reden, dessen Regime immer noch in Damaskus herrscht?

Im Alltag vor Ort gibt es eine gewisse Koordination unserer militärischen Kräfte an den Grenzen, damit es zu keinen Problemen kommt. Es gab über die Jahre auch mehrere Treffen und Versuche, ins Gespräch zu kommen. Ein wirklicher Dialog hat sich daraus jedoch nicht entwickelt. Das Regime in Damaskus will eine Situation schaffen, wie sie vor dem Bürgerkrieg 2011 herrschte: ohne Demokratie, ohne Minderheitenschutz, ohne Gleichstellung der Geschlechter. Mit uns ist das jedoch nicht möglich.

Blicken wir in die Zukunft: Wo sehen Sie Nordostsyrien in fünf oder in zehn Jahren?

Es ist unmöglich, die Probleme Syriens isoliert zu betrachten. Sie hängen mit der Weltpolitik zusammen. Vielleicht endet der Krieg in der Ukraine mit einer neuen Weltordnung. Vielleicht wird Erdoğan im nächsten Jahr abgewählt. All das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, damit verbunden sind. Aber wir sind Revolutionäre, wir werden weiter kämpfen, bis wir alle Probleme gelöst haben (lacht). Ich bin optimistisch. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre es, dass wir bald ein demokratisches, dezentralisiertes Syrien aufgebaut haben, in dem alle Völker der Region – Kurden, Araber, Christen oder Jesiden – zusammen leben können.

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