»Die Bürger werden jetzt beteiligt«

Miyela Riascos über die hohen Erwartungen an die Regierung Petro und Márquez in Kolumbien sowie die Mühen strukturellen Wandels

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 9 Min.
Beschlagnahmtes Marihuana in Buenaventura: Die Stadt an der Pazifikküste Kolumbiens ist von Bandengewalt geplagt.
Beschlagnahmtes Marihuana in Buenaventura: Die Stadt an der Pazifikküste Kolumbiens ist von Bandengewalt geplagt.

In Kolumbien ist mit Gustavo Petro und Francia Márquez seit rund vier Monaten erstmals eine linke Regierung im Amt. Wie beurteilen Sie den Start?

Interview

Miyela Riascos ist Mitbegründerin der Stiftung Aribí, die die Organisationsprozesse lokaler afro-kolumbianischer Gemeinschaften unterstützt, sich für die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung einsetzt und das Gleichgewicht des Ökosystems erhalten will. Mit ihr sprach Martin Ling.

Die Übergabe der Regierungsmacht an Petro und Márquez war und ist mit Hoffnung für die kolumbianische Bevölkerung und auch darüber hinaus in Lateinamerika verbunden, wo einige linke Regierungen in jüngster Zeit gewählt wurden. In Kolumbien gibt es seit der Unabhängigkeit 1810 diesen Traum, dass es eine Regierung gibt, die für die Mehrheit regiert und sie beteiligt. Die Regierung Petro/Márquez ist die erste, die dieses Vorhaben angeht. Das hat sich schon in den ersten drei Monaten gezeigt. Sie befragt die Bevölkerung nach ihren Vorstellungen. Das wurde bei der Ausarbeitung des Nationalen Entwicklungsplans 2022 bis 2026 gemacht, wo mehr als 200 000 Kolumbianer aus den unterschiedlichen Regionen beteiligt waren und ihre Anliegen einbringen konnten. Der Start der Regierung ist gelungen, die Bürger werden jetzt real beteiligt und nicht nur dekorativ wie bei den Vorgängerregierungen.

Worum geht es beim Entwicklungsplan?

Im Mittelpunkt stehen menschliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, der Zugang zu Wasser, Umweltgerechtigkeit, Klimaschutz und die produktive Transformation für ein besseres Leben sowie eine Angleichung der Lebensumstände in den Regionen.

Sie kommen aus Buenaventura an der Pazifikküste, dem bedeutendsten Exporthafen Kolumbiens. Die Stadt ist von der Gewaltherrschaft krimineller Banden geprägt. Hat sich da bereits etwas getan?

Ja, es gibt positive Anzeichen. In Buenaventura wurden sogenannte einheitliche Kommandoposten für das Leben eingerichtet, bei denen die bewaffneten Gruppen ihre Waffen niederlegen und sich der Demobilisierung anschließen können. Das kommt an. In Buenaventura gab es über einen Monat keinen einzigen Mord. Auch bei den kulturellen und sozioökonomischen Rechten sowie bei den Umwelt- und Landrechten gibt es schon Fortschritte zu verzeichnen. Die Regierung Petro hat den Integralen Spezialplan für die Entwicklung von Buenaventura unterzeichnet, was die Vorgängerregierung von Iván Duque verweigert hatte. Dafür werden 600 Milliarden kolumbianische Pesos (rund 120 Millionen Euro) zur Verfügung gestellt.

Die Regierung hat bereits Strukturveränderungen wie eine Steuerreform eingeleitet. Die Mittel daraus sollen in soziale Investitionen fließen und der Pflege sowie der Wiederherstellung der Kulturlandschaften dienen. Eine gute Strategie?

Ich halte das für eine exzellente Strategie. Bisher war es so, dass die untere und die mittlere Klasse mit ihren Steuern die Unternehmerklasse unterstützten und auch die multinationalen Unternehmen, die kaum Steuern gezahlt haben. Das ändert sich jetzt durch die Steuerreform. Die, die viel Geld haben, werden jetzt zur Kasse gebeten, und die Mittel sollen in die Sektoren fließen, wo sich die Verletzlichsten der Gesellschaft befinden, die oft ethnischen Minderheiten angehören.

Die Steuerreform soll mindestens vier Milliarden Dollar Mehreinnahmen pro Jahr bringen. Reicht das?

Das ist ziemlich gut für den Anfang. Es versetzt die Regierung in die Lage, soziale Investitionen in Gang zu setzen. So kann begonnen werden, die soziale Schuld gegenüber der armen Mehrheit der Bevölkerung abzutragen. Dazu hat sich die Regierung verpflichtet.

Die Regierung hat es in gut drei Monaten noch nicht geschafft, die soziale Krise zu bewältigen, noch die Vertreibungen zu beenden, was auch nachvollziehbar ist. Haben Sie die Hoffnung, dass die Regierung ihr Ziel des »totalen Friedens« erreicht?

Das ist eine große Herausforderung. Es ist noch viel zu früh, das abzuschätzen. Kolumbien hat eine jahrhundertelange Geschichte der systematischen Gewalt und der Landvertreibungen. Das kann keine Regierung in drei Monaten beilegen, dafür bedarf es eines langen Prozesses. Ich bin davon überzeugt und glaube daran, dass diese Transformation gelingt. Petro kann als Präsident nicht wiedergewählt werden; er kann in vier Jahren nur das Fundament legen und Fortschritte auf verschiedenen Ebenen erreichen. Danach muss es weitergehen. Wir brauchen mindestens fünf Linksregierungen, um den »totalen Frieden« erreichen zu können. Aber der Prozess hat begonnen, einen Monat ohne einen Mord in Buenaventura … das war lange unvorstellbar.

Wie viele Morde waren in Buenaventura früher üblich?

An einem Wochenende gab es im Schnitt sieben Morde, die Getöteten hatten ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Die jungen Männer gingen in die Falle derjenigen, die ihnen versprochen haben, mit dem Griff zu den Waffen könnten sie ihr Leben verbessern. Sie wurden von bewaffneten Gruppen geködert und getäuscht. 74 Prozent der Bevölkerung in Buenaventura lebt in Armut. Organisierte Kriminalität ist kein Ausweg, sondern eine Falle.

Was steckt hinter der Gewalt?

Letztlich die Idee einer neoliberalen Entwicklung, getragen von der unternehmerischen Elite und der rechten politischen Klasse. Land wird nicht geachtet, sondern nur ausgebeutet. Die Gewalt ist dort am stärksten, wo sich die Gebiete befinden, die für die Ausbeutung – den Extraktivismus – am attraktivsten sind. Diese Gebiete sind ein Schlachtfeld. Einst war Buenaventura ein friedlicher Ort, ein Ort des würdigen Zusammenlebens. Das hat sich geändert. Es wird aus dem Boden rausgeholt, was rauszuholen ist, Gold, Mangan, Coltan … Und die Leute, die auf dem Land leben, werden vor dem Abbau einfach mit Gewalt vertrieben. Wir sind hier auch reich an Biodiversität, aber wir wurden verarmt durch den Raubbau. In Buenaventura leben 500 000 Menschen, und die meisten haben keinen Zugang zu fließendem Wasser oder Strom. Vertreiben und ausrauben hieß bisher die Devise seitens der Elite. Die neue Regierung will das stoppen.

Neben dem Extraktivismus ist der Drogenhandel ein weiterer Brandherd des Konfliktes in Kolumbien. Präsident Petro versprach einen »Paradigmenwechsel« und eine Lösung für das Problem der illegalen Drogen im weltweit größten Kokainproduzentenland. Halten Sie das für denkbar?

Der Drogenhandel ist in der Tat eine weitere große Herausforderung. Die Koka-Pflanze an sich ist ja kein Problem, sie ist eine heilige Pflanze, harmlos. Nur die Herstellung von Kokain und das darauf aufbauende Geschäft ist ein Riesenproblem. In Buenaventura wird Land geraubt, um den Anbau der Koka-Pflanze für den Drogenhandel auszubauen, aber auch für Monokulturen wie die Ölpalme, den Kautschuk oder den Kakao. Für uns Bewohner von Buenaventura ist klar: Für ein friedliches Zusammenleben taugt keine Monokultur, weder eine illegale noch eine legale. Was auch nicht funktioniert, sondern große Schäden verursacht hat, war der Versuch vergangener Regierungen, die Kokapflanzungen mit dem Herbizid Glyphosat aus der Luft zu besprühen. Denn das Glyphosat hat auch die Nahrungsmittelproduktion getroffen.

Welche Alternativen sehen Sie?

Die Bewohner in Buenaventura, die indigenen und afro-kolumbianischen Gruppen, haben zwei mögliche Auswege vorgeschlagen: Die Kokapflanze ausschließlich für medizinische und kosmetische Zwecke zu nutzen oder die Kokapflanzen zu vernichten, aber indem wir sie per Hand eine nach der anderen ausreißen. Ohne Chemie. Zu letzterem hat sich beispielsweise der Gemeinschaftsrat des Yurumanguí-Flussgebiets im Departamento Buenaventura entschlossen. Dieses afro-kolumbianische Territorium gehört nun zu den Regionen mit den wenigsten Koka-pflanzungen im ganzen Land. Staatliche Unterstützung gab es dafür nicht, auch keinen Schutz. Die sozialen Anführer dieser Region gehören zu den von den kriminellen Banden am meisten Verfolgten. Einer ist mit seiner ganzen Familie wegen Morddrohungen nach Madrid geflohen, vier Anführer, zwei Männer und zwei Frauen sind in den vergangenen Wochen dort ermordet worden. Und das nur, weil sie offen gesagt haben: kein Kokaanbau mehr, kein Bergbau mehr und den Widerstand dagegen organisiert haben.

Lässt sich der Drogenhandel eindämmen?

Auch das ist ein langwieriger Prozess. Zuerst muss die Intensität gesenkt werden, der Druck der Drogenbanden auf die Bauern, Koka anzubauen, ihnen Land zu nehmen, muss abnehmen. Aus meiner Sicht hat Präsident Petro die Dynamik und die Mechanismen dieses Geschäfts verstanden. Die Regierung hat begonnen, einen Prozess weg vom Kokain einzuleiten. Wir sehen das mit Hoffnung. Allerdings ist die Aufgabe sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Man darf nicht vergessen, dass die Strukturen der Gewalt auf der großen Ungleichheit in der Gesellschaft beruhen. Wird der Reichtum besser verteilt, wie es die Regierung angeht, wird die soziale Gerechtigkeit wachsen und die Gewalt zurückgehen.

Sie sind Mitbegründer der sozio-ökologischen Stiftung Aribí, die die Organisationsprozesse lokaler afro-kolumbianischer Gemeinschaften unterstützt. Francia Márquez träumt davon, die Energiewende zu schaffen, um künftigen Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Sind das auch ihre Träume?

Diese Träume teile ich selbstverständlich. Das Umweltthema ist jedoch ein Thema, das die ganze Welt angeht. Es geht schlicht um die künftigen Lebensbedingungen für die ganze Menschheit. Papst Franziskus hat gesagt, dass die Menschen den Planeten als Heimat begreifen müssen, den die Menschheit als ein gemeinsames Haus bewohnt, das wir gemeinsam pflegen müssen. Praktisch ist es aber so, dass eine Minderheit sich auf Kosten der Mehrheit bereichert und den Planeten unverantwortlich ausplündert. Wir erleben das hier mit den von Chemikalien verschmutzten Flüssen, die Chemie landet in den Fischen und die Fische auf dem Teller. Missbildungen wie das Fehlen einer Hand bei Neugeborenen, eine steigende Zahl der an Krebs Erkrankten sind Folgen davon.

Wie sieht der Ansatz von Aribí aus?

Wir leisten unseren Beitrag für den Erhalt des Ökosystems. Zentral ist für uns dabei, Wissen aus der Tradition der afro-kolumbianischen Kultur zum Beispiel über Heilpflanzen, Anbaumethoden oder Saatgut mit dem afro-kolumbianischen »vivir sabroso« zu verbinden, ein würdiges, gehaltvolles Leben ohne Überfluss und Verschwendung. So wollen wir die verheerenden Folgen des extraktivistischen Wirtschaftsmodells in unserer Region Schritt für Schritt überwinden. Wir fühlen unsere Verantwortung, die Lebensbedingungen für die künftigen Generationen zu erhalten. Wir fühlen das als eine Verpflichtung, der wir uns stellen müssen. Die Doppelmoral der Industriestaaten, die die höchsten Emissionen haben und Länder im Globalen Süden mit ein paar Klimahilfsgeldern abspeisen wollen, damit sie ihre Umwelt bewahren, ist inkohärent. Kolumbien hat nur 0,7 Prozent Anteil an den Emissionen weltweit, stellt aber zehn Prozent der Biodiversität. Die Pazifikregion um Buenaventura und das kolumbianische Amazonasgebiet sind nach Brasilien die zweitgrößte Lunge der Welt. Sie zu bewahren, liegt im Interesse aller, und der Globale Norden muss dafür solidarische Unterstützung leisten, statt die Ausbeutung zu befördern wie bisher. Die Regierung Petro und Márquez liegt mit dem Ansatz einer grundlegenden Energiewende und dem angestrebten Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft sowie der Kohlenwasserstoffförderung auf dieser Linie. Wir unterstützen diesen Weg.

In einem Gespräch mit der spanischen Zeitung »El País« betonte Francia Márquez, dass Frauen Räume öffnen und ihre Präsenz in der Politik neue Wege der Politikgestaltung und eine Veränderung von Realitäten eröffneten. Sehen Sie das auch so?

Total. In der Politik eröffnen sich inzwischen mehr Räume für Frauen, Entscheidungen zu treffen, die die Gesellschaft von Grund auf verändern. Ich bin überzeugt davon, dass Frauen verstärkt versuchen sollten, sich um politische Posten zu bemühen, um gestalten zu können. Das ist nicht einfach, das ist ein langwieriger Prozess. Und dafür brauchen wir auch progressive Männer, die diesen Prozess unterstützen. Wir haben diesen Prozess der Transformation begonnen und müssen ihn fortsetzen. Für eine Gesellschaft der Solidarität, für eine Gesellschaft gegenseitigen Respekts. Deswegen überlege ich, 2023 für das Bürgermeisteramt in Buenaventura zu kandidieren.

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