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Frittierte Guppies

Über die Momente, nach denen man das Gefühl hat, dass plötzlich alles anders ist

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt Ereignisse, meistens sind es Katastrophen, von denen wissen alle, wo genau sie waren, als diese stattfanden. Der 11. September zum Beispiel ist ein solches Ereignis: Ich selbst war damals gerade mit meiner Mutter in einem Sportgeschäft, sie wollte mir Turnschuhe für den Sportunterricht kaufen. Der Turnschuhfachverkäufer ging komplett in seiner Aufgabe auf, das sportmuffelige Grundschulkind für die Wahl des richtigen Produkts »auf die richtige Bahn zu bringen« (die rote, 400 Meter lange Aschenbahn, die rund um den Sportplatz führt, nämlich).

Der ambitionierte Verkäufer erläutert uns die Unterschiede der verschiedenen Modelle und Marken – damals, Anfang der 2000er, noch ganz Old School Puma, Adidas und Nike – und lässt mich auf der einen Meter langen Probe-Aschenbahn den Grip testen (mir ist schon das An- und Ausziehen der Schuhe zu sportlich). Da wird er plötzlich von etwas auf dem Plasmabildschirm hinter mir abgelenkt. Ich versuche seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, indem ich mit der Sohle laute Quietschgeräusche mache, aber es ist ganz offensichtlich unmöglich. Ich weiß nicht, was er da sieht auf dem stumm geschalteten Screen hinter mir, auf dem eben noch MTV lief, aber seine Gesichtszüge entgleisen langsam. Es ist schwer auszumachen, ob es sich um Entsetzen oder Faszination handelt. Jedenfalls scheint es einen Lustgewinn für ihn zu geben an dem Bild der Zerstörung, das sich ihm offenbart.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.dasnd.de/hohmann

Der junge Verkäufer erlebte ganz offensichtlich einen historischen Moment – und ich erlebte ihn durch ihn. Später, als ich sporadisch ein Seminar über den Begriff des Erhabenen besuchte, dachte ich immer wieder an sein Gesicht: der Zustand, von dem unklar ist, ob er, der Betrachtende, unmittelbar identifiziert ist mit dem Betrachteten, dem Gegenstand, oder ob da, selbst wenn es sich um etwas Schönes handelt, immer eine Lücke bleibt, eine unüberwindbare Distanz. A bit of both, I guess. Klar ist, dass es eine Art Lustgewinn an der Brachialität gibt, ebenso an der Tatsache, einem echten Ereignis beigewohnt zu haben – etwas, das die Welt für immer verändert, sie in ein Vorher und ein Nachher teilt.

Natürlich erinnere ich mich auch an die Bilder der brennenden Türme, aber vor allem weiß ich noch, wie genervt ich war, dass »Die Simpsons« nicht im Fernsehen liefen, meine Lieblingssendung. Ich wusste aber auch: Wenn »Die Simpsons« ausfallen, kann das nichts Gutes bedeuten, für uns alle nicht.

Es gibt einige dieser verbindlichen Momente, nach denen man das Gefühl hatte, dass plötzlich alles anders ist. Die meisten davon liegen in meiner Kindheit, es ist die Zeit, in der man Dinge, auch Katastrophen, zum ersten Mal erlebt. Und natürlich sind diese Ereignisse für alle ein bisschen unterschiedlich, je nachdem, wo, mit wem, mit welchen Bezüglichkeiten und Medien man aufwächst – und wie die eigene Fähigkeit, sich beeindrucken zu lassen, gelagert ist.

Für mich war 9/11 nur einer dieser Momente, sehr beeindruckt haben mich auch der Tod von Lady Di (damals waren meine Mutter und ich gerade in einem Waschsalon in Istanbul) – und der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Ich erinnere mich, dass wir die Causa im protestantischen Religionsunterricht lange diskutierten; ein Mitschüler, der Camouflage-Hosen trug, hatte das Thema angebracht, ich selbst hatte noch gar nichts mitbekommen. Jahre später sang ich mit einem Mädchen im Chor, die das schreckliche Ereignis miterlebt hatte – die anderen Kinder erzählten sich tuschelnd davon. Die arme Mitsängerin wurde selten nach ihrer Perspektive gefragt.

Der Autor Louis-Ferdinand Céline beschreibt, dass er jahrelang unter Kopfschmerzen litt, die irgendwann, ganz plötzlich, verschwanden, von einem Tag auf den anderen. Der Tag, an dem seine Schmerzen plötzlich aufhörten, war der Tag des Ausbruches des Ersten Weltkriegs. Mir kommt die Idee, dass eine Katastrophe auch eine Erleichterung darstellen könnte, wahnsinnig weltfremd vor. Trotzdem erinnere ich mich daran, dass ich mich in Momenten unnötiger (Beziehungs-)Konflikte, die ich letztlich für Befindlichkeiten hielt, manchmal nach einem äußeren Umstand sehnte, der eine gewisse Klarheit mit sich bringt, die das wirklich Relevante (die Liebe zum Beispiel) vom Irrelevanten trennt.

Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich an dem Morgen, nachdem Donald Trump die Wahl gewonnen hatte, plötzlich feststellte, dass man sich in der U-Bahn in die Augen sah, entgeistert zwar, aber dennoch einander wohlgesonnen – statt wie üblich auf den Boden zu starren, um bloß nicht Ausversehen Blickkontakt aufzunehmen, der falsch inerpretiert werden könnte, als Flirt oder Angriff.

9/11 hat bis heute jene verbindende Qualität – ich erinnere mich gut, wie mein Exfreund, der in einem Vorort zwischen Köln und Bonn aufgewachsen war, mir stolz erzählte, dass einer der Terroristen auf dem Hobby-Flugplatz hinter dem Streichelzoo (sie hatten einen wunderschönen Esel) Fliegen gelernt hatte.

Als das Aquarium im Berliner Aquadom (von dem ich bisher noch nichts gehört hatte) in der vergangenen Woche mitten in der Nacht den Geist aufgab und sich 1500 Fische in die Lobby und auf die Straße ergossen, war ich gerade bei einem meiner Jobs. Meine Kolleg*innen und ich lachten uns (bestürzt) tot, sprachen über Stadtpolitik und darüber, dass wir es bereuten, nicht mal ein erstes Date in den Aquadom eingeladen zu haben. Auch Scherze wurden gemacht: Ob »Nordsee« am Alexanderplatz jetzt wohl frittierte Guppies verkaufte? Und was ist eigentlich mit den Haien am U-Bahnhof Friedrichstraße? Eine Museumsbesucherin, die in besagtem Hotel gewohnt hatte, meldete sich aus Traumatisierungsgründen krank, ihr wurde ausnahmsweise das Geld zurückerstattet. Meine Mutter schrieb: »Ich hatte noch einen Gutschein für den Aquadom, konnte ihn in den letzten Jahren wegen der Pandemie nicht einlösen.« Da sind sich wohl zwei Ereignisse in die Quere gekommen.

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