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Zelle des Widerstands
Das immersive Theaterprojekt »Speicher« zeigt im brandenburgischen Strausberg Auswege aus den globalen Krisen
Ein wenig fühlt man sich in die Schlussszene von François Truffauts meisterhafter Verfilmung von Ray Bradburys »Fahrenheit 451« versetzt. 451 Grad Fahrenheit, das bezeichnet die Temperatur, bei der Papier entflammt. In dem dystopischen Roman steht im Zeichen eines totalitär verfassten Staates Strafe auf die Lektüre oder auch nur den Besitz von Büchern. Und im eindrucksvollen Filmschluss sehen wir sie dennoch alle, die Widerständler, die Verschworenen, die sich, abgelegen in einem Wald, zusammenfinden, um das gedruckte Wort zu erinnern und gesprochen weiterzugeben. Das Wissen wird im Gedächtnis bewahrt und geteilt. Kein Happy End, aber doch Bilder des Mutes, die über das Ende des Films hinaus wirken.
Wie Verschworene kann man sich auch im märkischen Strausberg fühlen. Etwas abgelegen steht der »Speicher«, ein paar S-Bahn-Stationen von Berlin entfernt. Dieser hölzerne, futuristisch anmutende Bau, am Waldrand neben dem hiesigen Theater, der Anderen-Welt-Bühne, platziert, lädt ab dem 16. Oktober für einen Monat zum Besuch ein. Zwei Performerinnen begleiten die Gäste durch das Gebilde. Gemütlich ist es hier, etwas rätselhaft auch. Bücher über Bücher, liebevoll in rötlichem Papier eingeschlagen, bekleiden die Regale.
Die beiden Frauen erzählen Fragmente einer Geschichte. Die eine kommt von weither. Von einem fernen Ort oder gar aus einer anderen Zeit, wir wissen es nicht so genau. Katastrophalen Lebensbedingungen entflohen, führt sie uns mit der anderen durch den »Speicher« genannten Raum. Hier, in unserer Realität, soll mit ihrer Hilfe das Schlimmste abgewendet, die auf uns zurollende Apokalypse noch verhindert werden. Kein Eskapismus in der Bücherecke, sondern Auswege sollen gesucht werden. Hin zu einem anderen Miteinander, zu einem anderen Wirtschaften.
Für einen zweistündigen Besuch dieser Bibliothek und Zelle des Widerstands lassen sich online »Time slots« buchen. Dabei wird man sanft von den Performerinnen entführt. Es handelt sich bei dem Spektakel um das, was unter dem Schlagwort immersives Theater zu einer Mode der zeitgenössischen Bühnenkunst geworden ist. Man ist mittendrin im Geschehen, kann sich nicht im Parkett mit geschlossenen Augen zurückziehen (wobei auch der »Speicher« Rückzugsorte bietet) und wird behutsam zur Interaktion eingeladen. Man kann sich aber auch, mehr oder weniger, der unmittelbaren Beteiligung entziehen und Bücher aus Regalen ziehen: Bände zu nachhaltiger Landwirtschaft oder zum Klimawandel, Kinderbücher und Sachliteratur finden sich da, Harald Welzer und Karl Marx, Naomi Klein und Pussy Riot, Titel der Friedensbewegung und fiktionale Geschichten mit hoffnungsvollem Ausgang.
Es ist nicht die erste Station des »Speichers« in Strausberg. Unter dem Titel »Transit« hatte die Künstlerin Mona el Gammal bereits 2021 vor dem Berliner Futurium haltgemacht. Dass sich ein solches Projekt, zwischen aufklärerischer Funktion und künstlerischem Anspruch, aufmacht von der Metropole in die vermeintliche Provinz, ist vielleicht wagemutig. Aber das Vorhaben könnte sich lohnen.
Wagemutig ist auch der Impuls, in Zeiten globaler Krisen hoffnungsvolle Erzählungen finden zu wollen. In seiner mehrtausendjährigen Geschichte hat das Theater vor allem auf die Konflikte und unauflösbaren Widersprüche als Dauerthemen gesetzt. Eine Kritik der falschen Verhältnisse durch ihre Wiederholung auf der Bühne. Aber vielleicht nimmt dieses Spektakel endlich Brechts Anspruch wörtlich, die Welt als eine veränderbare zu zeigen.
Der »Speicher« kann vom 16.10. bis 16.11. besucht werden.
https://wissensspeicher.online/
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