Bericht eines Enttäuschten

Ein Wunderglaube, die Überzeugung, dass »drüben« Milch und Honig flössen. Der Westen war besser, als es den Osten noch gab

  • Harald Müller
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Wunder ist geschehen: Bananen gab es nach dem Mauerfall im Handumdrehen.
Ein Wunder ist geschehen: Bananen gab es nach dem Mauerfall im Handumdrehen.

Das ist also das Wunderland, das wir uns ersehnt hatten. Wo Milch und Honig und alle Brünnlein fließen. Wo die Technik den Menschen umschmeichelt wie ein Königsornat. Wo der Mensch dem Menschen kein Wolf ist. Der Westen war besser, als es den Osten noch gab. Jetzt trudelt er von Krise zu Krise. Ein flügellahmer Adler, ein dreibeiniger Hund, mehr nicht. Alle Entscheidungen führten in die Falle neuer Verhältnisse. Die Hoffnung läuft eine Weile noch mit. Dann geht ihr die Puste aus. Jetzt sind wir erneut am Anfang des Endes.

Aberglaube-Serie

Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.

Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.

Die Demokratie erfasst nicht die ganze Gesellschaft. Die Wirtschaft ist undemokratisch. Kein Vorstand wird von der Belegschaft gewählt. Ich habe die Feigheit erlebt, die Duckmäuserei, das Hinter-der-Hand-Reden, wenn plötzlich der Chef auftauchte. Die Boni der Bonzen. Freiheit ist eine reale Illusion. Sie wird gewährt, wo sie der Macht nicht schadet. Und die Macht liegt nicht bei der Politik.

Aber das Gute, sagt man, die neuen Rechte. Stimmt. Aber gut und Recht sind nicht eins. Was immer es sein mag, das Gute hat keine Lobby. Es ist nicht da, wo die Weichen gestellt werden. Über die alle Züge dann rollen. Es wird oft übersehen. Vermutlich, weil es zu klein ist.

Der Osten war ein Kellerloch. Er hatte ein paar schmale Fenster unterhalb der Decke. Man sah die teuren Schuhe der Vorübergehenden. Die im Keller Sitzenden stellten sich natürlich sehnsüchtig den Rest vor. Modern, elegant, vor allem reich. Gier und Hoffnung bilden immer eine sichere Melange.

Plötzlich funktionierte das Gewohnte nicht mehr. Ja, es schien nie funktioniert zu haben. Jahrzehnte hatte man durchgehalten. Sich eingerichtet. Gespart. Glück gehabt. Oder Pech. Sich verliebt. Geheiratet. War geboren worden oder gestorben. Das alles wurde plötzlich grau und bitter wie alte, vergammelte Lebensmittel. Ein Drehschwindel hatte das Denken erfasst. Was unüberwindlich schien, fiel in einer einzigen Nacht. Die Macht, auf Ewigkeit inszeniert, verpuffte wie feuchtes Schießpulver.

Ich war in den Traumhäusern, den Glaspalästen der Sehnsucht. Von jeder Sache 20, 30 Varianten. Als könnte man sich 20-, 30-mal einkleiden. Die Fantasie eines Junkies hatte sich der Verkaufswelt bemächtigt. Man blickte auf das Begrüßungsgeld in der eigenen Hand. Ein Glitzer-Shirt, ja, eine Tasse Kaffee, ein kleiner Imbiss. Der Keim der Frustration wurde in diesen ersten Tagen gelegt. Das Geld maß jeder Freiheit seine Grenzen zu.

Haribo, Eduscho, Mercedes, der Urlaub an der Costa Brava, Shell, Nutella, Louis Vuitton (wenigstens ein Lippenstift), Adidas, Nivea, C & A. Die ganze Utopie des Westens. Wir fühlten uns ertappt. Man musste dankbar sein. Wir übernahmen die neuen Worte, die schicken Klamotten, das falsche Lächeln, im Sitzen zu pinkeln, die Distanz der handlosen Begrüßung, das ganze Hi, Hello, Ciao, die Kultur des Renommierens, die hohen Geschwindigkeiten, überhaupt dieses Wahnsinnstempo, mit der die Gesellschaft von Markt zu Markt, von Angebot zu Angebot schwappte. Stück für Stück wurde das Leben zu einer Funktion fugenlosen Konsumierens. Aus Unterdrückten seien clevere Konsumenten geworden. So lobte man uns. Und wir fühlten uns geschmeichelt.

Dinge machen reich und leer. Als müsste es einen Ausgleich geben. Wir waren so bedürftig, dass wir nichts spürten. Nichts spüren wollten. Spanien? Lachhaft! Thailand wenigstens. Oder Australien! Erfüllte Wünsche füllen neue Wünsche. Die Werbeindustrie richtete uns ab wie gezähmte Affen. Auch der letzte Scheiß lohnte den Kauf. So raffiniert tönten die Sirenen, dass selbst die verhassten Ostprodukte plötzlich begehrenswert schienen. Wir gingen voran, indem wir zurückfielen. Eine Fallhöhe leichter Beute.

In den Krisen lernten wir, dass es zwei Arten von Versagern gibt. Die systemrelevanten, die mit riesigen Steuergeldern auf die Beine gestellt werden. Und die bedeutungslosen, denen Hartz IV in den Hals geträufelt wird. Beide unterliegen demselben Freiheitsregime. Beider Leben ähneln sich freilich wie Hundefutter und Sektfrühstück.

Kritik war erwünscht. Fast alles durfte man kritisieren. Sogar eine Kanzlerin war problemlos zu beschimpfen. Aber was nützt Kritik, wenn ihre Wirksamkeit wie Wasser ist, das im Sand verrinnt. Folgenlose Kritik hat möglicherweise eine therapeutische Bedeutung. Man darf sich aussprechen. Was ihren Einfluss angeht, stumpft sie eher ab. Politiker sind basisresistent.

Jede Stimme ist gefragt. Jede Meinung ein Korn in diesem Sandsturm der Beliebigkeiten. Das Dümmste steht neben raffinierten Analysen. »Big Brother« neben intellektuellem Arte-Talk. Anything goes. Die Welt ist ein Supermarkt. Greif zu, mein Freund. Solange du ein paar Euro im Beutel hast, füll den Wagen deiner Wünsche. Und gehen dir die Cents aus, bleibt dir noch immer die Straße. Du hast sogar das Recht zu verwahrlosen. Die Welt ist groß. Such dir einen Platz.

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