Der unerwartete Widerstand

Linke erinnern sich heute mit Dank an den Hitler-Attentäter Georg Elser. Wäre Trauer nicht angebrachter?

  • Matheus Hagedorny
  • Lesedauer: 5 Min.

Konstanz, am Abend des 8. November 1939. Zehn Meter von der Schweizer Grenze entfernt greifen deutsche Grenzbeamte einen 36-jährigen Schreiner auf, der überzeugt ist, den Lauf der Geschichte zu verändern. In seinem Gepäck finden die Beamten unter anderem Teile eines Zeitzünders, eine Ansichtskarte vom Münchner »Bürgerbräukeller« und einen Anstecker des seit 1929 verbotenen kommunistischen Roten Frontkämpferbundes.

Wenig später erreichten Nachrichten aus München die Grenzstation: Eine Explosion hatte den »Bürgerbräukeller« erschüttert, in dem Adolf Hitler vor »alten Kämpfern« des Auftakts des rechtsextremen Putschversuchs am 8. November 1923 gedachte. Elsers selbst gebaute Bombe hatte funktioniert und doch ihr Ziel verfehlt: Hitler, Goebbels, Himmler, Heß und weitere Parteiobere hatten den Saal wenige Minuten zuvor verlassen. Der Sprengsatz verletzte 63 und tötete acht Menschen, darunter sieben altgediente NSDAP-Mitglieder und eine Kellnerin, die nach dem vorzeitigen Ende von Hitlers Rede den Saal wieder betreten durfte.

Aus einem aufgegriffenen Grenzgänger am Bodensee wurde rasch der Hauptverdächtige eines staatsgefährdenden Attentats. Die Propaganda des überraschten Regimes reagierte mit Verschwörungslegenden, wonach die Tat aus London gesteuert worden sei.

Die organisierte Linke war vom Attentat in München nicht minder überrascht. Sie vermutete einen Propagandacoup der Nazis oder Machtkämpfe innerhalb des Regimes. Dass dahinter allein ein scharfsinniger Handwerker aus dem schwäbischen Königsbronn stand, der stets kommunistisch gewählt hatte und fest an Gott glaubte, lag außerhalb ihrer Vorstellung. Für moskautreue Kommunisten widersprach die Tat der eigenen Linie gleich doppelt: In der Doktrin des Marxismus-Leninismus ergaben Angriffe auf Regierungsvertreter nur dann Sinn, wenn sie Nebenprodukt einer revolutionären Massenerhebung waren. Zudem verbot der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 jede Gewaltaktion gegen das Naziregime.

Der dissidente »rote Medienzar« Willi Münzenberg missdeutete den Anschlag von München dagegen als Teil einer Reihe von widerständigen Regungen in der Bevölkerung. Die Sozialdemokraten registrierten die Nervosität nach dem Anschlag, ließen indes alle revolutionären Hoffnungen fahren und harrten der militärischen Niederlage.

Georg Elser, geboren am 4. Januar 1903 in Hermaringen, Württemberg, hatte demgegenüber ein so nüchternes wie genaues Verständnis der Lage entwickelt. Der christlich wie kommunistisch orientierte Arbeiter beobachtete die schwindenden Freiheiten aus der industrialisierten Provinz der Schwäbischen Alb. Anders als die meisten Kommunisten hatte Elser begriffen, dass sich der Nationalsozialismus weder auf eine klassische Diktatur noch auf ein Marionettenregime von Kapitalfraktionen reduzieren ließ. »Dem Führer entgegenarbeiten« (Ian Kershaw) war der Antrieb des nationalsozialistischen Unstaats. Von Diskussionen mit Regimeanhängern hielt Elser entsprechend nichts. Er war überzeugt, »dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten«. Er erkannte, dass die Machthaber nur mit Gewalt zu irritieren waren, ohne sich Illusionen über die Auswirkungen seiner geplanten Aktion zu machen.

Ein erfolgreiches Attentat konnte lediglich »eine Mäßigung in der politischen Zielsetzung« erreichen, wie das Gestapo-Verhörprotokoll den nach Folter geständigen Attentäter zitiert. Elser hatte getan, was die deutsche Militäropposition im Herbst 1938 bloß erwogen hatte, als Hitler die militärische Eroberung der Tschechoslowakei aggressiv vorantrieb. Die Bombe im »Bürgerbräukeller« war die brisanteste Einzelaktion des Widerstands in Deutschland, die wohl nur jenseits aller linken Organisationen vollbracht werden konnte. Darin liegt ihre Tragik, denn ohne weitere Machtmittel in der Hinterhand versprach dieses einsame Attentat viel weniger als den »Griff (…) nach der Notbremse«, womit Walter Benjamin 1940 die revolutionäre Aufgabe der Stunde beschrieb.

Georg Elser verbrachte seine letzten Jahre als »persönlicher Gefangener des Führers« in strengster Isolation von seinen Mitgefangenen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau, bis er am 9. April 1945 ebendort ermordet wurde. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war er ein Widerstandskämpfer ohne Lobby, dessen Andenken vielseitig beschädigt wurde. Erst die breite Verfügbarkeit der vom Münchner Institut für Zeitgeschichte entdeckten Berliner Gestapo-Verhörprotokolle rehabilitierte Elser seit den 60er Jahren.

Die DDR-Geschichtswissenschaft führte das ehemalige Mitglied des Roten Frontkämpferbundes bis zuletzt nicht als Teil des kommunistischen Widerstandes. Aber es war die maßgeblich aus der DDR gelenkte westdeutsche Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die 1972 die weltweit erste Gedenkstätte für den Widerstandskämpfer in Heidenheim durchsetzte. Ansonsten gab es im »roten Jahrzehnt« (Gerd Koenen) keine nennenswerte Auseinandersetzung von links. Seit den 80ern würdigten immer mehr Geschichtswerkstätten, Dramatiker und Filmemacher, akademische Historiker und Antifaschisten das Attentat. Heute gibt es mehr Gedenkstätten für Georg Elser als für den Anführer des Widerstands vom 20. Juli 1944, Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

In der Linken wird Elser heute oft als proletarisch-ehrenhaftes Gegenstück zum nationalromantischen Spätputschisten Stauffenberg angeführt, der die Legenden vom Befehlsnotstand Lügen straft. Doch verfehlt diese Heldengeschichte die tragische Einsamkeit, die in dem Versuch liegt, die Kriegsmaschine des Nationalsozialismus zu stoppen. Linke sollten die Geschichte gegen den Strich bürsten und fragen, was gefehlt hat, damit möglichst alle die befreite Gesellschaft lebend erreichen. Diesem Ideal hat sich Georg Elser verpflichtet: Er plante den Anschlag so, dass er möglichst keine Unbeteiligten trifft und weiteres Blutvergießen im Krieg verhindert. Die ungünstigen Umstände sorgten dafür, dass die Tat ihren Urheber nach langer Qual das Leben gekostet hat. Daher gebührt Georg Elser nicht nur Dank, sondern auch Trauer.

Von unserem Autor erschien 2019 die Biografie »Georg Elser in Deutschland« (ça-ira-Verlag).

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