Wahlkreissieger nicht mehr sicher drin

Wahlrechtsreform soll Bundestag auf Regelgröße von 598 Abgeordnete verkleinern

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit der Bundestagswahl 2002 ist das deutsche Parlament kontinuierlich größer und damit auch teurer geworden. Gab es seinerzeit nach der Wiederwahl von Gerhard Schröder (SPD) zum Bundeskanzler noch 603 Sitze, wuchs diese Zahl bis zum Jahre 2013 auf 631 – und legte dann noch zwei ordentliche Sprünge hin: 2017 saßen 709 Abgeordnete im Bundestag, nun sind es 736. An einer Wahlrechtsreform, die der zunehmenden Aufblähung ein Ende bereitet, sind jedoch bislang alle Regierungen gescheitert. Nun hat die Ampel-Koalition einen Gesetzentwurf vorgelegt, der tatsächlich die Chance hat, eine Trendwende in dieser Entwicklung einzuläuten. Aber schon jetzt gibt es Kritik.

Die Ampel will den Bundestag wieder auf seine Regelgröße von 598 Abgeordneten verkleinern – durch eine simple wie einschneidende Maßnahme: Alle Überhang- und Ausgleichsmandate sollen wegfallen. Diese sind nämlich der Grund dafür, dass der Bundestag überhaupt so groß geworden ist: Durch die parteipolitische Ausdifferenzierung gewinnt heutzutage bei einer Bundestagswahl eine Partei mit durchschnittlich deutlich weniger Prozenten als noch vor ein paar Jahrzehnten. Gleichzeitig kann es aber passieren, dass diese Partei weiterhin sehr viele Wahlkreise holt. Das kann zur Folge haben, dass die Zahl der Wahlkreissieger*innen, die bisher automatisch in den Bundestag eingezogen sind, die Zahl der dieser Partei nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehenden Mandate deutlich übersteigt, was wiederum den Bundestag größer und größer werden lässt.

Nun also soll der Zweitstimmenanteil gemessen an der Regelgröße von 598 Sitzen zur alles entscheidenden Maßgabe werden – egal, wie viele Wahlkreise eine Partei gewinnt. Diese Regelung kann jedoch zur Folge haben, dass direkt gewählte Abgeordnete überhaupt nicht mehr in den Bundestag einziehen. Die neue Regel lautet: Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise direkt, als ihr Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, gehen die Kandidat*innen mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen leer aus. »Die erfolgreiche Kandidatur im Wahlkreis setzt also künftig neben der relativen Mehrheit eine Deckung durch Hauptstimmen voraus«, heißt es dazu im Gesetzentwurf. Demzufolge könnte es passieren, dass manche Wahlkreise nach der kommenden Bundestagswahl 2025 keinerlei parlamentarische Vertretung mehr haben.

Beibehalten werden soll dafür die bisherige Einteilung in 299 Wahlkreise. Das ist tatsächlich eine Neuerung, denn die CDU-SPD-Vorgängerregierung hatte noch eine Verringerung der Wahlkreiszahl auf 280 beschlossen. Nach jüngsten Plänen wäre davon auch der Ostberliner Wahlkreis Lichtenberg betroffen gewesen – und damit Die Linke, die dort quasi ein Dauerabo auf den Wahlkreissieg hat. Seit 1994 hat Die Linke in Lichtenberg bei jeder Bundestagswahl das Direktmandat geholt: 1994 und 1998 siegte die ehemalige DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft, seit 2002 gehört der Wahlkreis der Haushaltspolitikerin Gesine Lötzsch. Zuletzt ist der Vorsprung der Linken aber auch in Lichtenberg geschmolzen, von 19,6 Prozent (2013) auf 6,2 Prozent (2021). Von einer Krise der Linken kann in ihrer Parteihochburg aber noch nicht gesprochen werden.

Die Überlegung, dass – anstelle einer Verringerung der Zahl der Wahlkreise – direkt gewählte Abgeordnete nicht mehr sicher in den Bundestag einziehen sollen, sieht die Co-Parteivorsitzende Janine Wissler dennoch kritisch: »Die Grundidee mit den Direktwahlkreisen war doch immer, dass jede Region Deutschlands eine direkte Vertretung im Bundestag hat.« Die Menschen in den von der Neuregelung betroffenen Wahlkreisen hätten nun »nicht mehr die Möglichkeit, sich mit ihren Anliegen an Abgeordnete zu wenden«. Die Linke werde ihre Zustimmung aber nicht ausschließlich von dieser Frage abhängig machen. Die ehemalige Co-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow twitterte, der Entwurf der Ampel sei »nicht grundlegend falsch«, aber »etliche Fragen sind da noch zu klären«.

Deutlich schärfere Kritik kommt von CDU und CSU, die bislang stets viele Überhangmandate erhalten haben. Die Union drohte sogar mit dem Gang nach Karlsruhe. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Stefan Müller sagte am Montag dem Nachrichtenportal »The Pioneer«: »Gewählten Wahlkreiskandidaten das Mandat zu verweigern, ist eine eklatante Missachtung des Wählerwillens und des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips.« Rückhalt erhält die Ampel aus der Bevölkerung: 78 Prozent stimmten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach der Position zu, dass der Bundestag wieder auf die ursprünglich vorgesehene Größe verkleinert werden solle.

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