Scholz muss in Chile Farbe bekennen

Der deutsche Kanzler besucht das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 5 Min.

Menschenrechte stehen nicht im Zentrum bei der Lateinamerikareise von Bundeskanzler Olaf Scholz. Vom 28. bis 31. Januar reist der Sozialdemokrat in Begleitung einer Wirtschaftsdelegation nach Argentinien, Brasilien und Chile. Dabei wird es vor allem um Handelsabkommen, Wirtschaftskooperationen und Rohstoffexporte gehen. So setzt Deutschland auf den Import großer Mengen von Lithium, Kupfer und Wasserstoff, denn die werden für die Produktion von Batterien, Kabeln und synthetischen Kraftstoffen, für den Bau von Windrädern und für den Betrieb von Elektrofahrzeugen gebraucht, um so die Energie- und Mobilitätswende in Deutschland zu bewältigen.

In der chilenischen Hauptstadt Santiago ist am Sonntag auch ein Programmpunkt zum Thema Menschenrechte geplant. Zusammen mit dem chilenischen Präsidenten Gabriel Boric will Olaf Scholz das Museum für Erinnerung und Menschenrechte besuchen, das an die Verbrechen der chilenischen Diktatur (1973–1990) erinnert. Von strategischer Bedeutung für die Pinochet-Diktatur war die 1961 in Südchile gegründete deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad.

Intern herrschte in der »Kolonie der Würde« ein System von Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt. Nach dem Putsch 1973 kooperierte die Sektenführung um den deutschen Laienprediger Paul Schäfer eng mit dem chilenischen Geheimdienst Dina. Hunderte politische Gefangene wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet und verscharrt. Siedlungsbewohner gruben die Leichen später wieder aus, verbrannten sie und warfen ihre Asche in den Fluss Perquilauquén. Überreste einiger der bis heute Verschwundenen werden noch in Massengräbern auf dem Gelände vermutet.

»Ich hoffe, dass Scholz und Boric im Rahmen ihres Treffens auch ein Bekenntnis zu einer gemeinsamen Trägerschaft und zur Einrichtung einer Dokumentations- und Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad formulieren«, sagt Elke Gryglewski, Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, dem »nd«. Einen Vorschlag dafür hatte sie mit einem Team von deutschen und chilenischen Expert*innen im Auftrag beider Regierungen bis 2021 ausgearbeitet.

Frank-Walter Steinmeier hatte sich 2016 – damals als deutscher Außenminister – zu einer moralischen Mitverantwortung Deutschlands bekannt. Denn das Auswärtige Amt hatte Hilfsgesuche von Sektenangehörigen und deren Familien jahrzehntelang ignoriert; Einzelnen, denen die Flucht aus der streng abgeriegelten Siedlung gelang, sogar den Schutz verweigert. Der Deutsche Bundestag beschloss 2017 einstimmig, die Bundesregierung solle zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad beitragen. Eine zentrale Forderung dabei ist die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes – zusammen mit der chilenischen Regierung.

Doch in der Siedlung, die sich inzwischen »Villa Baviera« nennt, floriert heute nur ein Hotel-Restaurant-Betrieb im folkloristischen Bayernstil, daneben Landwirtschaft und eine Hühnerfarm. Gäste genießen das leckere Essen, die frische Luft und die schöne Landschaft am Fuß der Anden. Ein Affront für die Angehörigen der Verschwundenen: Sie fordern Aufklärung und ein »Ende des Tourismus an diesem Ort, der ein Ort der Erinnerung sein sollte«, sagt Myrna Troncoso, deren Bruder Ricardo 1974 verhaftet wurde und bis heute verschwunden ist.

Als bislang ranghöchster deutscher Politiker besuchte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) im Oktober 2022 – damals in seiner Funktion als Bundesratspräsident – die »Villa Baviera«. Er machte sich für die Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte stark. Doch weder die deutsche noch die chilenische Regierung unterstützten seinen Besuch. Die deutsche Botschafterin begleitete ihn nicht. Im Nachhinein soll ein Referatsleiter des Auswärtigen Amtes Ramelow laut »Spiegel« als »aufgeblasenen Pfau« bezeichnet haben. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu, diese Anschuldigungen würden intern überprüft.

Entscheidender ist die Frage, ob die deutsche und die chilenische Regierung bis zu dem in Chile wichtigen Datum des 50. Jahrestages des Putsches am 11. September 2023 konkrete Maßnahmen zur Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte ergreifen. Oder ob – wie im November 2022 in der »Gemischten Kommission« mit Vertreter*innen beider Regierungen diskutiert – auf absehbare Zeit lediglich Gedenktafeln angebracht werden.

Auf Wunsch der chilenischen Regierung entzog diese Kommission dem deutsch-chilenischen Expert*innenteam rund um Elke Gryglewski, das einen Vorschlag für eine Gedenkstätte in der »Villa Baviera« entwickelt hatte, das Mandat. Gleichzeitig bekannte sich die chilenische Seite jedoch zum Ziel der Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu, die Bundesregierung wolle die deutschen Expert*innen Elke Gryglewski und Jens-Christian Wagner (Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) auch künftig weiter in diesen Prozess einbinden. Daher habe das Amt auch im Dezember 2022 wieder Dialogveranstaltungen von Gryglewski und Wagner mit verschiedenen Betroffenengruppen in Chile finanziert.

»Wir haben in diesem Jahr zum achten Mal mit den unterschiedlichen Opfergruppen gearbeitet«, erklärt Gryglewski. Dabei sprechen sie über Erwartungen an einen Gedenkort und Konflikte: mit Bewohner*innen der »Villa Baviera«, den Angehörigen von Verschwundenen, mit den in der Colonia Dignidad Gefolterten, den chilenischen Opfern von sexualisierter Gewalt oder unrechtmäßigen Adoptionen sowie mit Landarbeiterfamilien, die Anfang der 70er Jahre von dem Gelände der Colonia Dignidad vertrieben wurden. »Wenn man das vergleicht, zum ersten Jahr, 2014, als keine der verschiedenen Gruppen auch nur ansatzweise mit einer anderen Opfergruppe sprechen konnte, sondern nur Vorurteile gegenüber den anderen bestanden«, so die Historikerin, sei es ein »unendlich großer Erfolg«, dass inzwischen eine »große Empathie« entstanden sei.

Entsprechend dem Vorschlag der Expert*innen sollen alle Opfergruppen, ihre Geschichte und ihr Leiden in einer Gedenk- und Dokumentationsstätte angemessen repräsentiert werden. Viele von ihnen sprechen sich heute für die Errichtung einer Gedenkstätte, eines Dokumentationszentrums in der Ex-Colonia-Dignidad aus.

Doch die Politik hinkt hinterher. Dabei ist die politische Konstellation mit der linken Regierung in Chile und der rot-gelb-grünen Bundesregierung so günstig wie nie zuvor. Elke Gryglewski hofft, »dass es in dem jetzt zur Verfügung stehenden Zeitfenster von zwei Jahren, vielleicht etwas darüber, gelingt, wirklich ein paar konkrete Schritte zu gehen, weil wir merken, dass die Betroffenen müde sind. Die Betroffenen sterben auch, und es wäre eine vertane Chance, wenn es nicht unter der jetzigen politischen Konstellation gelingt.«

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