Ein festes geistiges Band

Ende nach fast 145 Jahren: In Buenos Aires stellte das »Argentinische Tageblatt« sein Erscheinen ein

  • Marcus Christoph
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Belegschaft des »Tageblatts« im Jahr 2017, das Banner halten die Chefs: Stefan Kuhn (l.) und Juan Alemann.
Die Belegschaft des »Tageblatts« im Jahr 2017, das Banner halten die Chefs: Stefan Kuhn (l.) und Juan Alemann.

Es lag schon länger in der Luft. Doch dann ging alles Knall auf Fall – und die fast 145-jährige Geschichte meist kritischen Printjournalismus’ am Río de la Plata endete abrupt. Verleger Juan Alemann verkündete den Mitarbeitern des »Argentinischen Tageblatts« kurzfristig, dass die Ausgabe am 13. Januar die letzte sein würde. Vorausgegangen war der Tod des langjährigen Redaktionsleiters Stefan Kuhn wenige Tage zuvor. »Der Tod unseres Chefredakteurs stellt uns vor ein unlösbares Problem, nachdem wir ohnehin zu wenig Redakteure hatten«, beschrieb Alemann die Situation der im 19. Jahrhundert gegründeten Wochenzeitung in der letzten Ausgabe, die die Nummer 32 432 trägt. Kuhn arbeitete fast 30 Jahre für das »Tageblatt«, seit 1996 als Redaktionsleiter. Vor seiner Zeit in Südamerika hatte er übrigens auch ein Praktikum bei der Sportredaktion des »Neuen Deutschlands« absolviert.

In den letzten Jahren fehlte es in der Redaktion tatsächlich an personeller Kontinuität. Es fanden sich immer weniger deutschsprachige Journalisten. Zuletzt arbeiteten vier Redakteurinnen und Redakteure für das »Tageblatt«, davon nur zwei in Vollzeit. Auch der Verleger schrieb bis zuletzt Artikel. Als weitere Gründe für die Schließung verwies Alemann auf sein eigenes Alter sowie auf die wirtschaftliche Situation, die für die Zeitung immer schwieriger geworden sei. Die schrumpfende Auflage, die zuletzt nur noch im unteren vierstelligen Bereich lag, ein stark rückläufiges Anzeigengeschäft sowie der fortschreitende Einflussverlust der deutschen Sprache in Argentinien seien mitverantwortlich dafür, dass man die traditionsreiche Zeitung nicht mehr halten könne, so der Verleger. Dass diese überhaupt so lange habe überleben können, sei neben bestimmten Gönnern vor allem dem Einsatz der verbliebenen Mitarbeiter zu verdanken gewesen.

Das »Tageblatt« war das letzte Medium der traditionellen Einwanderungsgruppen, das dauerhaft Bestand hatte. Der noch etwas ältere »Buenos Aires Herald« hatte 2017 sein Erscheinen eingestellt. Derzeit gibt es ein neues englischsprachiges Projekt namens »Buenos Aires Times«, das einmal pro Woche als Beilage der Zeitung »Perfil« erscheint. In Buenos Aires sind die Zeitungen in italienischer und französischer Sprache längst verschwunden. Doch neuere Einwanderungsgruppen wie die Chinesen haben eigene Publikationen in der Hauptstadt gegründet.

Das »Tageblatt« berichtete über ein breites Themenspektrum, das von internationalen Meldungen und Nachrichten aus dem deutschsprachigen Raum bis hin zu Berichten über die deutschen Vereine in Argentinien reichte. Schwerpunkte waren Politik und Wirtschaft in Argentinien.

Die Schließungsankündigung von Juan Alemann, der in Argentinien wegen seiner Tätigkeit als Finanzstaatssekretär unter der letzten Militärdiktatur viele Kritiker hat, markierte den Schlusspunkt einer langen Historie, die auf Alemanns Urgroßvater Johann Alemann zurückging. Dieser war im Jahr 1874 aus dem Schweizer Kanton Bern nach Argentinien gekommen, nachdem er in seiner Heimat mit mehreren Zeitungsprojekten kein Glück gehabt hatte.

In Argentinien gründete Alemann recht bald nach seiner Ankunft den »Argentinischen Boten«, der in Santa Fe erschien, als Informationsquelle für die dortige Schweizer Gemeinschaft. Doch nach nur einem Jahr veräußerte er den »Boten« wieder und arbeitete eine Weile in Buenos Aires bei der kurz zuvor gegründeten »Deutschen La Plata Zeitung«, ehe er am 2. März 1878 das »Argentinische Wochenblatt« ins Leben rief. Damit sollte eine Erfolgsgeschichte beginnen. Denn in den folgenden Jahren strömten zahlreiche deutschsprachige Auswanderer ins Land, deren Lesebedarf in ihrer Muttersprache groß war. Unter den Neuankömmlingen waren auch viele Arbeiter, die durch Bismarcks Sozialistengesetze aus Deutschland vertrieben wurden und die lieber das liberale Wochenblatt als die kaisertreue »La Plata-Zeitung« lesen wollten. Deshalb hob Alemann 1889 das »Argentinische Tageblatt« aus der Taufe. Damit sollte »ein festes geistiges Band um alle Deutschsprechenden Argentiniens geschlungen werden, welches so verhindert, in geistige und Versumpfung zu verfallen«, hieß es in der ersten Ausgabe am 29. April 1889.

Den Kampf gegen »geistige Versumpfung« hatte im weiteren Verlauf der Geschichte vor allem Johann Alemanns Enkel Ernesto auszufechten, der 1925 die Leitung der Zeitung übernahm. Während das »Tageblatt« klar auf Seiten der Weimarer Republik war, wuchs auch am Río de la Plata die Zahl der Nazi-Sympathisanten, die in der »La Plata«- Zeitung ein Sprachrohr finden sollten. Über Hitlers Absichten gab man sich keinen Illusionen hin. »Tageblatt«-Redakteur Peter Bussemeyer schrieb im Juli 1933: »Diktatoren haben ihre Schicksale. Vor ihrem Zusammenbruch kommt der Krieg, der ihr Ende um einige Zeit herausschieben soll. (…) Diktaturen entscheiden sich immer für den Krieg und gehen unter.«

Als die deutschen Schulen in Argentinien im Sinne der NS-Ideologie »gleichgeschaltet« wurden, gründete Alemann mit anderen zusammen die Pestalozzi-Schule, die frei von solchem Ungeistwar. Von Seiten der NS-Sympathisanten waren das »Tageblatt« und seine Mitarbeiter oft Schikanen ausgesetzt. Redakteure wurden auf der Straße verprügelt, in die Druckerei warf man eine Brandbombe. Die deutsche Botschaft strengte sechs Prozesse gegen die Zeitung an. Ernesto Alemann wurde der Doktortitel aberkannt, den er an der Universität Heidelberg erworben hatte. Deutsche Firmen organisierten einen Anzeigenboykott, der zum Teil durch eine gestiegene Auflage ausgeglichen werden konnte. In den 30er Jahren kamen rund 40 000 Geflüchtete aus dem deutschsprachigen Raum nach Argentinien. Nicht wenige wurden treue Leser des »Tageblatts«, manche sogar Mitarbeiter wie der Schriftsteller Paul Zech.

Zum 50. Gründungstag übersandten unter anderem Albert Einstein, Sigmund Freud sowie die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann ihre Grußworte. Diese große und mutige Geschichte dürfte eine Rolle gespielt haben, als das »Tageblatt« 2012 den Medienpreis »Dialog für Deutschland« erhielt, den Redaktionsleiter Kuhn in Berlin aus den Händen des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert entgegennehmen konnte.

In den 50er-Jahren rieb sich das »Tageblatt« an der Regierung von Juan Domingo Perón. Zeitungspapier wurde rationiert. Vorübergehend musste der Verlag geschlossen werden. Seit jener Zeit war das »Tageblatt« tendenziell anti-perónistisch eingestellt. Berichtet wird, dass die Zeitung eine gewisse Rolle beim Aufspüren von Adolf Eichmann spielte. So erfuhr der jüdische Emigrant Lothar Hermann 1959 aus dem »Tageblatt«, dass nach dem Holocaust-Organisator gefahndet werde. Hermann wandte sich an den deutschen Staatsanwalt Fritz Bauer, der diese entscheidende Information zur Ergreifung des NS-Verbrechers an Israel weiterleitete.

Eine prägende Gestalt im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts war Peter Gorlinsky. Ein Berliner Jude, der schon in den 20er Jahren in seiner Heimatstadt für die »Vossische Zeitung« schrieb. 1937 floh er nach Montevideo, ein gutes Vierteljahrhundert später siedelte er nach Buenos Aires über. Dort knüpfte er recht bald Kontakte zum »Tageblatt«, dessen Chefredakteur er von 1963 bis zu seinem Tod 1995 sein sollte. Er drückte mit seinen scharfen historisch-politischen Analysen des Weltgeschehens der Zeitung seinen Stempel auf. Auch wies er mit einem Artikel auf das Schicksal der verarmt in Argentinien lebenden Emilie Schindler hin und löste damit eine Lawine der Hilfsbereitschaft für die alleinstehende Frau des Judenretters Oskar Schindler aus.

Ein dunkler Fleck in der Geschichte des »Tageblatts« ist die Unterstützung für die letzte Militärdiktatur in Argentinien (1976 bis 1983). Man begrüßte den Putsch nach den chaotischen Jahren unter Präsidentin Isabel Perón. Die argentinische Zeitung »Página/12« zitiert AT-Leitartikel jener Jahre, in denen für »Nacht- und Nebelaktionen« gegen führende Regimegegner plädiert wurde. Ernesto Alemanns Söhne bekleideten hohe Posten während der Militärherrschaft. Roberto Alemann fungierte als Wirtschaftsminister (1982). Juan Alemann war von 1976 bis 1981 für die Finanzen der Junta zuständig; er überlebte zwei Attentatsversuche. Die Stimme im Kampf gegen die Gewaltherrschaft war in dieser Zeit der »Buenos Aires Herald«. In einem Prozeß gegen die Verbrechen der Militärjunta im wurde Juan Alemann 2017 freigesprochen.

Ernesto Alemann starb 1982. Ein Jahr zuvor war der Rhythmus von täglichem auf wöchentliches Erscheinen umgestellt worden – unter Beibehaltung des Namens »Tageblatt«. Die Leitung übernahmen Roberto und Juan Alemann, die bis ins hohe Alter Texte schrieben. Roberto Alemann verstarb 2020 im Alter von 97 Jahren. Juan Alemann gestaltete noch bis Anfang Januar mit 95 Jahren die Wirtschaftsübersicht der Zeitung. In der Redaktion führte nach Peter Gorlinskys Tod Stefan Kuhn Regie. Der Politikwissenschaftler aus Baden-Württemberg prägte die Redaktion mit seinem gelassenen, von intellektueller Tiefe geprägtem Stil. Er sah sich dem antifaschistischen Erbe der Zeitung verpflichtet. Mit seinem Tod am 7. Januar dieses Jahres endete eine Ära. In den letzten Tagen mehrten sich Stimmen, zumindest eine Online-Version der Zeitung fortzuführen.

Unser Autor war seit 2009 Redakteur des »Tageblatts«, zuständig für Politik und Sport, seit 2017 stellvertretender Redaktionsleiter.

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