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Auf dem Schlachtfeld

Ausdrücke sind keine statischen Gebilde: Matthias Heine diskutiert »Kaputte Wörter?«

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Text war ein Paukenschlag. Mit den Worten »Ich war Unterschicht« machte der Autor Matthias Heine 2006 in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« seine, nun ja, bildungsferne Herkunft öffentlich – als Sohn einer deutschen Putzfrau und eines italienischen Arbeiters, der noch vor der Geburt des Kindes das Weite gesucht hatte. Wohlsituierte Eigenheimbesitzer erfuhren bei der Sonntagmorgenlektüre, was Armut in einem reichen Land bedeutet. Heine gab aber auch ungewöhnliche Ernährungstipps, zum Beispiel, dass eine Mischung aus Paniermehl und Paprikapulver den Hunger stillt; manchem Leser dürfte bei dieser Vorstellung das Croissant im Hals stecken geblieben sein. Darüber hinaus beschrieb er die Vorzüge funktionierender öffentlicher Einrichtungen wie Kindergarten und Grundschule. Sie bahnten ihm selbst, ungeachtet aller sozialer Widrigkeiten, den Weg zu Gymnasium und Universität. Heute ist Heine Redakteur im Feuilleton der »Welt«.

Diese Vorgeschichte hilft beim Verständnis seiner ungewöhnlichen Wörterbücher. Wem eine Bildungsbürgerlaufbahn nicht in die Wiege gelegt wurde, nähert sich der Welt der Sprache auf eine andere, vielleicht demütigere Weise. Der doziert nicht vom Katheder eines Elfenbeinturms herab, sondern versucht, seine Erkenntnisse so zu vermitteln, dass auch Laien sie begreifen.

Ganz gleich, ob Heine »Verbrannte Wörter« (also Naziausdrücke wie »asozial«, »entartet« und »zersetzen«), »Eingewanderte Wörter« (wie »Amok«, »Kirche« und »Zucker«) oder »Ausgewanderte Wörter« (wie »Besserwisser«, »Krach« und »Putsch«) unter die Lupe nimmt oder sich mit den Tieren in unseren Redewendungen beschäftigt – man spürt beim Lesen seiner Bücher: Hier will jemand seine Freude, ja Begeisterung über sprachliche Entdeckungen mit Menschen teilen, die kein Linguistik-Hauptseminar besucht haben. Populärwissenschaft statt Philistertum. Das funktioniert bereits auf dem Umschlag. Auf einen Buchtitel wie »Seit wann hat ›geil‹ nichts mehr mit Sex zu tun?« muss man erst mal kommen.

Jetzt also sein neuestes Werk: »Kaputte Wörter?« Es sind achtzig an der Zahl. Man beachte das Fragezeichen. Denn es geht um Begriffe wie »Abtreibung«, »Asylant«, »Schwarzfahren«, »Sprachpolizei« und »Zwerg«. Da springen bei dem einen Alarmsensoren an (Sexismus, Rassismus etc.), während die anderen auf den »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!«-Trotzmodus umschalten. Und ehe man sich’s versieht, befindet man sich auf einem linguistischen Schlachtfeld, auf dem Cowboy und Indianer gespielt wird. Huch! Ist auch »Indianer« ein »kaputtes Wort«? Sehr großes Fragezeichen.

Aber Heine gibt die Antwort darauf. Auch bei Begriffen, die man spontan nicht unter »heikler Sprache« verbucht hätte. Warum sind »Milch«, »Curry«, »der beste Freund« und sogar das Satzzeichen Punkt verdächtig? Wieso wird »Weißrussland« schon seit Längerem als Belarus bezeichnet? Und können Gastronomen noch guten Gewissens die »Pizza Hawaii« oder den »Russischen Zupfkuchen« auf die Speisekarte setzen? Von diesem einen, berühmt gewordenen Schnitzel ganz zu schweigen.

Hier ist Heine als Wissenschaftler gefordert. Jedes der achtzig ausgewählten Wörter analysiert er anhand von vier Kategorien: Ursprung, Gebrauch, Kritik und Einschätzung. Dieser Aufbau ist sinnvoll. Denn Wörter sind keine statischen Gebilde. Sie vermögen im Laufe der Jahre (manchmal auch Jahrhunderte) nicht nur ihre Bedeutung (Denotation) zu ändern, sondern auch ihre Konnotation, also die Emotionen und Assoziationen, die ihr Gebrauch auslöst.

Noch in den 1960er Jahren nahm niemand daran Anstoß, wenn selbst in einer progressiven Zeitschrift wie »Twen« der Musiker Stevie Wonder mit dem N-Wort, wie man heutzutage sagen würde, bezeichnet wurde. An solchen Beispielen zeigt sich laut Heine, »dass das Diskriminierende keine Essenz ist, die immer schon in den Wörtern eingeschrieben war und ihnen ewig unauslöschlich eingeschrieben bleibt. Schwuler zum Beispiel war ein Schimpfwort und konnte dennoch zur stolzen Eigenbeschreibung werden«.

Und umgekehrt. So begründet Heine plausibel, warum der ursprünglich gutgemeinte Ausdruck »behindert« heute problematisch ist, und kommt zu dem Schluss: »Es gibt keinen Grund, ihn nicht durch einen besseren Ausdruck zu ersetzen, wenn dieser gefunden werden sollte.« Doch genau dies ist häufig ein Problem. Da wünscht man sich einen William Shakespeare zurück, der kurzerhand Begriffe erfand, wenn das vorhandene Vokabular nicht ausreichte. Auf diese Weise schuf der Dramatiker aus Stratford-upon-Avon rund 1700 neue englische Ausdrücke.

Doch auch ohne hochproduktive Wortschöpfer wie Shakespeare oder Martin Luther, auf dessen Konto Ausdrücke wie »Rotzlöffel«, »Feuereifer«, »Lückenbüßer« und »Mördergrube« gehen, unterliegt Sprache einem stetigen Wandel. Der Wittenberger Reformator gilt aufgrund einiger seiner sehr bedenklichen Äußerungen heute als antisemitischer, frauenfeindlicher Autor. Daher ist Heine vorsichtig mit abschließenden Urteilen.

Ob man ein Wort benutzen darf oder es lieber vermeiden sollte, sei relativ. Oft hänge es von der Geisteshaltung der jeweiligen Person ab. »Wenn Sie Wert auf gendersensible Sprache legen, sollten Sie ›bemannt‹ vermeiden.« Aber Heine macht auch deutlich, dass der Einfluss von Sprache seine Grenzen hat. Linguistische Gleichberechtigung mündet noch lange nicht in realer. Der Weg zur »befrauten« Raumfahrt ist keine Vokabelfrage. »Wenn Sie die Emanzipation im All tatsächlich voranbringen wollen, sollten Sie stattdessen versuchen, Mädchen für Technik, MINT-Fächer und Weltraumforschung zu begeistern.«

Matthias Heine: Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache. Duden, 304 S., geb., 22 €.

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