Naziverbrechen verständlich erklärt

Barrierearme Internetseite der Euthanasie-Gedenkstätte in Brandenburg/Havel erhält Designpreis

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Gedenkort zeigt auf Stelen Poträts der Euthanasie-Opfer.
Der Gedenkort zeigt auf Stelen Poträts der Euthanasie-Opfer.

»Das Beste daran, hier Guide zu sein? Ich kann den Leuten, den Gästen, aus meiner Sicht erklären, wieso Behinderte damals ermordet wurden. Viele wissen das gar nicht und ich kann ihnen das sagen«, erklärt Lutz Albrecht. »Ein anderer würde das auch können, aber das wird dann mehr ausgeweitet und so und ich sage das immer gleich auf den Punkt genau.«

Der Weg zur Tötungsanstalt am Nicolaiplatz
  • 1790 wurde am Standort der späteren T4-Tötungsanstalt in Brandenburg/Havel ein Landarmen- und Invalidenhaus für arme Einwohner und invalide Soldaten und ihre Familien eröffnet.
  • Ab 1810 wurden in dem Armenhaus auch Strafgefangene aus dem überfüllten Zuchthaus Spandau untergebracht.
  • 1820 wurde das Areal zu einem Zuchthaus für bis zu 600 Insassen umgebaut. Es erhielt dazu auch eine Gefängnismauer. In dem Zuchthaus mit Schlafsälen für je 60 Männer herrschten katastrophale hygienische Bedingungen.
  • Nach der Fertigstellung des modernen Zuchthauses in Brandenburg-Görden wurde das Alte Zuchthaus in der Innenstadt 1932 geschlossen.
  • 1933 und Anfang 1934 diente das Zuchthaus als frühes Konzentrationslager.
  • 1940 benutzten die Faschisten das Areal zur Ermordnung von psychisch Kranken und geistig Behinderten. Zehn Prozent der rund 9000 Opfer waren Juden.
  • Die T4-Aktion sollte geheim bleiben. Man wollte die Angehörigen über die tatsächliche Todesursache täuschen. Da die Aktion in Brandenburg/Havel aber doch für Aufmerksamkeit sorgte, wurde die Tötungsanstalt Ende 1940 nach Bernburg verlegt. af

    Menschen mit Lernschwierigkeiten wie Lutz Albrecht arbeiten in Brandenburg/Havel in der Behinderten-Werkstatt der Lebenshilfe. Albrecht und seine Kollegen haben sich darüber hinaus von April bis Dezember 2016 dafür ausbilden lassen, Besucher durch die Gedenkstätte für die Opfer der faschistischen Euthanasie-Morde am Nicolaiplatz der Stadt zu führen. Das englische Wort Guide bedeutet auf Deutsch Führer, aber den Begriff wollen sie ganz bewusst nicht verwenden, um nicht an Adolf Hitler zu erinnern.

    Von Januar bis Oktober 1940 erstickten die Faschisten im Alten Zuchthaus am Nicolaiplatz mehr als 9000 Menschen mit Kohlenmonoxid – psychisch Kranke, geistig Behinderte und jüdische Patienten. Dieses Verbrechen gilt als Auftakt zur Ermordung der Juden durch Giftgas, da die Verfahrensweise hier in Brandenburg/Havel an kranken, als »lebensunwert« eingestuften Menschen erprobt wurde. Es war eine von sechs Tötungsanstalten der berüchtigten T4-Aktion, benannt nach der Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo der Mord an 70 000 Patienten koordiniert wurde.

    Was die von den Nazis benutzten Worte »minderwertig« und »lebensunwert« bedeuten, erläutert Lutz Albrecht bei seinen Führungen in der Gedenkstätte. Für einen wie ihn hätten diese Worte damals den Tod bedeuten können. Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hat die Guides 2016 nicht nur geschult, Besuchern laut und verständlich die am Nicolaiplatz verübten Verbrechen nahezubringen. Gemeinsam mit den Guides wurde damals spezielles Material für die Führungen entwickelt – und nun haben sie auch an der Erstellung einer barrierearmen Internetseite mitgewirkt. Hier wird die Geschichte der Tötungsanstalt in kurzen Sätzen und leicht verständlich erzählt. Wer des Lesens nicht mächtig ist, kann sich den Text per Mausklick vorlesen lassen. Außerdem gibt es Fotos und Videos. In einem Video erzählen Lutz Albrecht und die anderen über ihre Tätigkeit als Guides, die ihnen trotz des schwierigen Themas Freude und Mut macht. So sagt eine Frau, sie habe dadurch mehr Selbstbewusstsein gewonnen.

    Die barrierearme Internetseite »Geschichte inklusiv« ist jetzt vom Netzwerk »Design für Alle« mit einem Preis ausgezeichnet worden, wie die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten mitteilte. Mit dem zum dritten Mal vergebenen »EDAD-Award« werden Projekte gewürdigt, die nicht nur durch ein hervorragendes Design überzeugen, sondern dabei auch für alle Menschen »zugänglich und gut nutzbar sind«, so die Stiftung. »Zusammen mit allen Projekt-Beteiligten freuen wir uns sehr über diese Auszeichnung und die damit verbundene Wertschätzung unseres innovativen Online-Angebots«, sagt die stellvertretende Gedenkstättenleiterin Lisa Quaeschning. Man reagiere mit der Webseite »auf den hohen gesellschaftlichen Nachholbedarf im Bereich der digitalen Teilhabe, die einen Schwerpunkt unserer Arbeit bildet«.

    Verfügbar ist die Seite www.geschichte-inklusiv-sbg.de seit Anfang des Jahres. Erstellt wurde sie in Zusammenarbeit mit der Agentur »Erdmännchen & Bär«, die auf derlei spezialisiert ist, und mit finanzieller Unterstützung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Sehr eindrückliche Illustrationen lieferte Gianluca Sciliano. Er zeichnete beispielsweise einen Mann im weißen Kittel, unverkennbar ein Arzt, der mit verbissenem Gesichtsausdruck wie am Fließband Dokumente abzeichnet – sicher Befunde, die für seine Patienten ein Todesurteil waren. Die Illustration ist farbig und doch düster, nicht allein durch das angedeutete Hitlerbild an der Wand.

    »Die National-Sozialisten haben im Alten Zuchthaus Menschen ermordet. Diese Menschen haben sie mit dem Bus nach Brandenburg an der Havel gebracht. Am Alten Zuchthaus war ein Tor. Durch dieses Tor sind die Busse in das Alte Zuchthaus gefahren. Elvira Hempel war damals ein 8 Jahre altes Kind. Sie hat in einer Heil- und Pflegeanstalt gelebt. Dann hat man sie mit einem Bus in die Tötungs-Anstalt gebracht. Elvira hat überlebt. Nur 13 Kinder haben überlebt. Die National-Sozialisten haben 885 Kinder und Jugendliche in der Tötungs-Anstalt umgebracht.« In diesem Stil wird auf der Internetseite erzählt, was 1940 am Nicolaiplatz geschah. »Die Busse haben vor der Scheune angehalten. In der Scheune war eine Gas-Kammer. In einem anderen Teil von der Scheune waren Öfen.« Ein Arzt habe sich die Patienten angeschaut, sie aber nicht untersucht, sondern sich Todesursachen wie Lungenentzündung und Herzinfarkt ausgedacht. Dann seien die Menschen in der Gaskammer getötet und ihre Leichen in den Öfen verbrannt worden.

    Es wird auch daran gedacht, wie das Erfahrene auf die Leser wirkt. »Vielleicht bist du jetzt traurig. Oder du hast Angst. Oder du bist wütend. Oder verzweifelt«, steht da. »Das geht vielen Menschen so. Deswegen fragen sich viele Menschen: Warum soll ich mich mit den Euthanasie-Verbrechen beschäftigen? Dadurch werde ich traurig. Wir sagen: Es ist trotzdem wichtig, dass wir uns mit Euthanasie-Verbrechen beschäftigen.«

    »Entsetzliche Dinge sind hier geschehen«, beklagte der damalige Landesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel, als er die Gedenkstätte 2018 besuchte und sich dort mit den Guides traf. »Die Behinderten müssen das erfahren, gerade heute, wo wieder versucht wird, Menschen auszugrenzen.«

    5700 Besucher zählte die Gedenkstätte am Nicolaiplatz im vergangenen Jahr wieder. Das waren sogar 100 mehr als 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen. Ein solch erstaunlicher Zuwachs sei in einer Gedenkstätte sicher selten, meint Horst Seferens, Sprecher der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, die auch die KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück sowie andere Erinnerungsorte im Bundesland betreut. Die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde wurde im Jahr 2012 in einem erhalten gebliebenen Wirtschaftsgebäude des Alten Zuchthauses eröffnet.

    Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde, Nicolaiplatz in Brandenburg/Havel, Do und Fr von 13 bis 17 Uhr, Sa und So von 10 bis 17 Uhr. www.brandenburg-euthanasie-sbg.de

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