Fleischgewordene Authentizität

PJ Harvey bringt gesammelte B-Seiten in einem Album heraus

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
PJ Harvey bei einem Festival in Turin.
PJ Harvey bei einem Festival in Turin.

PJ Harvey ist einer der vielseitigsten Shapeshifter im Pop. Was insofern recht lustig ist, als sie auf ihren ersten vier oder auch fünf Alben, die direkt in die Anfangs- und Hochphase der Grunge-Ära in den 90ern fielen, als fleischgewordene Authentizität wahrgenommen wurde. Texte über Gott und alles verzehrende Liebe, Blues, dunkle Erotik, Leiden, Ekstase. Harvey riss mit ihrer Gitarre und einer wirklich durchdringenden Stimme auf dem Album »Rid of Me« und den 4-Track-Demos dann auch formgerecht alles ab. Die Zusammenarbeit mit Nick Cave, auch so ein Schauspieler des Echten, Tiefen, Existenziellen, war da nur eine Frage der Zeit.

Das änderte sich spätestens 2000, mit dem Album »Stories from the Sea«, auf dem die Stimme in die Höhe kletterte und die Musik diffiziler und weniger brachial geriet. Es folgten, nach einem kurzen Nicken Richtung Frühwerk (»Rid of Me«), zwei klavierlastige Alben, mit denen PJ Harvey sich vollständig neu erfand und sich neue Formen und Formate erschloss. Unter anderem eine Art elektrifizierten, soul-lastigen Folk-Protestsong, der auf dem sehr, sehr schönen »The Hope Six Demolition Project« mit Community-Chor dargeboten wird.

Die jetzt erschienene, drei CDs oder sechs Vinyl-Scheiben umfassende Sammlung »B-Sides, Demos & Rarities« bündelt die verschiedenen Stadien und Phasen PJ Harveys anhand der Songs, die es nicht auf die Alben geschafft haben. Was in diesem Fall einmal ausnahmsweise keine Ausschussware mit sich bringt. Harvey hat schon zuvor immer wieder Demos veröffentlicht, die als rohe Skizzen anders, aber genauso dicht und auf den Punkt sind wie die Album-Versionen.

Es finden sich zahlreiche glänzende, aber auch unbehauene musikalische Edelsteine. An manchen klebt noch der Dreck, aus dem sie ausgegraben wurden (routiniert appliziert mittels Distortion-Pedal und kaputtem Mikrofon). Das 1992 aufgenommene Demo des Bob-Dylan-Covers »Highway Revisited ’61« zum Beispiel. Oder – völlig andere Soundwelt, als wäre es von jemand anderem gesungen worden – »Who Will Love Me Now«, ein sanftes Klagelied, dessen Text von einem liebesbedürftigen Monster erzählt, das sich im Wald versteckt. Mit einer glockenhellen Stimme: »In the forest is a monster / And it looks so very much like me / Will someone hear me singing? / Please save me, please rescue me«. Einer der schönsten PJ-Harvey-Songs, versteckt bislang auf der B-Seite der 1996 erschienenen Single »That Was My Veil«.

Von dieser Art findet sich einiges auf »B-Sides, Demos & Rarities«, wobei der Schwerpunkt auf den frühen Jahren liegt und später offenbar weniger im Studio übrig geblieben ist. Die Verwandlung von dem, was im »Rolling Stone« früher »Rockröhre« hieß, zu einer konzeptuell arbeitenden Musikerin, die mit Formen, Outfits und Traditionen spielt, lässt sich an der grob chronologischen Zusammenstellung trotzdem wunderbar nachvollziehen. Und es wird noch einmal deutlich, dass auch die ersten Alben, die Grunge-Blues-Urschrei-Songs, die das Leiden der Liebe und der Welt im Allgemeinen wütend geschultert hatten, natürlich genauso artifiziell sind wie die späteren. Nur wenig ist im Pop mit so viel Arbeit an der Form und mit Schauspiel verbunden wie die Herstellung des Eindrucks von Authentizität.

PJ Harvey: »B-Sides, Demos & Rarities« (Island/Universal Music)

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